Wenn der Satz das Wort regiert


Meistens ist es ja andersherum: Weil wir uns für eine bestimmte Wortlösung entscheiden, müssen wir den Satz umbauen. Doch das ist wohl gar nicht der Rede wert. Problematisch wird es, wenn sich das Wort dem Satz beugen, unterordnen soll. Wenn ich also die Wortlösung vom Satz abhängig mache, und dadurch womöglich Verluste riskiere.

Dazu eine Vorbemerkung. Auch bei der Wortwahl, ob wir nun reden oder schreiben, gehen wir keineswegs so bewußt vor, wie wir das vielleicht annehmen möchten. Wir schreiben, sprechen, denken weitgehend „den Wörtern entlang“. Hans Georg Gadamer hat das sehr viel vornehmer ausgedrückt: In einem Aufsatz mit dem Titel „Gutes Deutsch“ bemerkt er, daß „das Sprechen und Schreiben nicht so sehr im Wählen von Wörtern besteht, sondern darin, daß wir ihren Einladungen folgen.“ Und er lobt die Weisheit der Sprache, „daß sie von 'Wendungen' redet, von Tropoi: das sind Wege, die die Sprache eingeschlagen hat …“ [Tropos bedeutet Wendung, Richtung, aber auch Sitte, Denkart]. Wörter sind also weit mehr als Bausteine, die – so die Grundthese der rationalistischen Philosophie – eine allgemeinverbindliche Ratio gemeißelt hätte, sie sind, wenn wir reden oder schreiben, meist auch Träger von vernunftfernen Impulsen der verschiedensten Art: psychisch, kulturhistorisch, ästhetisch usw.

Wenn das von den Wörtern gilt, dann wird es noch mehr vom Satz gelten. Er wird meist noch viel weniger rational konstruiert (vergessen wir bitte, was wir in der Schule über den kurzen deutschen Satz gelernt haben). Wir suchen oft nach dem richtigen Wort, aber nach dem richtigen Satz sucht selten jemand. Der Satz kommt in der Regel aus dem Bauch heraus. Und genau das ist das Wertvolle an ihm: Er widerspiegelt die Sponaneität der Sprache, indem er Impulse weitgehend unbewußt transportiert. Er kann Gemütsbewegungen anzeigen, indem er zäh dahinfließt oder, im Gegenteil, „dahersprudelt“. Er kann einen Habitus widerspiegeln, indem er lakonisch oder vornehm, musikalisch oder spröde, akademisch oder umgangssprachlich daherkommt. Und nicht zuletzt gibt er ja den Rhythmus eines Textes vor, indem er die Atempausen setzt. Wenn man also sagt, der Satz ist der Atem des Textes, so ist das keineswegs eine bloße Metapher.

Kehren wir zum Übersetzen zurück. Wie gehen wir denn hier mit dem Satz um? Wie entsteht der Satz in unserer deutschen Übersetzung? Aus dem Bauch heraus kommt er schon mal nicht, oder nur in seltenen Glücksfällen. In der Regel ist er eher ein nachgeordnetes Produkt unserer Bemühungen, die Wortbedeutungen wiederzugeben. Wenn wir dann auch noch die Partizipial- und Gerundivkonstruktionen aufgelöst haben, kann er sich zum ziemlichen Ungetüm ausgewachsen haben. Das deutsche Satzbaumuster hat bekanntlich so seine Eigenheiten (z.B. das Verb oder die bedeutungstragende Verbhälfte, die in neun von zehn Fällen ganz ans Ende muß), und vor allem kommt es ziemlich schnell zur inflationären Kommavermehrung, weil es im Deutschen pingelige und zwingende Kommaregeln gibt, während zum Beispiel im Französischen das Komma mehr oder weniger ein Nuancierungsmittel ist, fast ohne Regeln. Aber das alles kennen wir ja zur Genüge.

Wenn man sich Übersetzungen aus den fünfziger oder sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts anschaut, stellt man fest, daß auf den Satz schlicht nicht geachtet wurde. Man dachte offenbar gar nicht daran. Heute ist das schon ganz anders, bekanntgeworden ist das Beispiel von Burkhart Kroeber, der in seiner Manzoni-Übersetzung gerade die Rekonstruktion des klassische-romanischen Satzbaus zur Herausforderung gemacht hat.

Mich haben mehrere Übersetzungen dazu gezwungen, mich mit dem Satz bewußter zu beschäftigen. Zuerst die paar Simenons, die ich vor etwa zehn Jahren gemacht habe. Simenon ist ziemlich leicht zu übersetzen, aber man hat auch ganz schnell den Ton verfehlt. Die Texte wirken wie hingetupft, der Stil erinnert irgendwie an die Impressionisten: Details sind wenig ausgearbeitet, fast flüchtig ausgeführt, aber beim „Zusammenschauen“ der schnellen Lektüre macht gerade dies die Lebendigkeit aus. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich darauf kam, die Kommata zu zählen. Das hört sich seltsam an, aber wenn ich feststellte, daß mein Satz fünf oder sechs Kommata hatte, und das Original bloß eins oder zwei, habe ich mich nochmal drangesetzt und geschaut, daß ich Nebensatzkonstruktionen eliminieren konnte. Der Satz wurde jedesmal leichter, „impressionistischer“.

Der zweite Autor, der mich dazu zwang, sehr bewußt am Satz zu arbeiten, war Jean-François Bergier, ein hervorragender Historiker der Braudel-Schule. Bei ihm galt es, einen akademischen, aber alles andere als papierenen Stil und einen sprachlichen Habitus zu reproduzieren, den eine Rezensentin (aufgrund meiner Übersetzung) als „elegante Diktion des Westschweizers“ charakterisierte. Nur mit Feilen an Wortlösungen wäre es mir nie gelungen, ein deutsches Gegenstück zu dieser „Diktion“ zu schaffen.

Und jetzt Jean Rouaud. Was dieser Autor mit den Sätzen macht, erinnert mich an Bartoks Aufbrechen des festen Takts in der Musik. Bartok hat sein Verfahren in der Volksmusik Mittel- und Südeuropas entdeckt, die er jahrelang systematisch studierte. Rouaud hebt die feste Satzlänge auf, indem er das tut, was wir beim spontanen Sprechen machen: Mal reden wir bedächtig in kurzen, gemessenen Sätzen, mal sprudeln wir ohne Punkt und Komma drauflos, machen Einschübe, verwenden Passagen wörtlicher Rede. Obwohl er nie ins Umgangssprachliche geht, entwickeln seine Texte die Dynamik des Oralen. Und das ist himmelweit entfernt von einer Manie, es wirkt so perfekt natürlich, daß er, wenn er öffentlich liest, seitenlange Sätze vortragen kann, ohne daß das Publikum es bewußt wahrnimmt. Man merkt allenfalls, daß ein „inneres Tempo“ zu- oder abnimmt.

Rouauds virtuose und doch so ganz natürlich wirkende Satzkunst ist beim Übersetzen schlicht Gesetz: Ich würde das Original total verraten, wenn ich nicht alle Mühe darauf verwendete, sie zu reproduzieren. Das heißt aber, daß der Satz den Oberbefehl erhält: Wortlösungen, die den Satz aus den Fugen geraten ließen, kommen gar nicht in Betracht. Das macht zwar das Übersetzen zur endlosen Puzzelei, aber es trifft sich bei mir mit einer alten Überzeugung, oder sollte ich sagen Leidenschaft? Der Satz ist der Atem des Textes.


Einige Fälle, bei denen sich das Wort dem Satz zu beugen hatte:

1. Ein sehr einfaches Beispiel, das ich anderswo schon gegeben habe. Ein Satz aus dem ersten Band von Proust Suche nach der verlorenen Zeit:

    „Bathilde, viens donc empêcher ton mari de boire du cognac!“

Wort für Wort übersetzt:

    Bathilde, komm [doch], um deinen Mann daran zu hindern, Cognac zu trinken!

Es handelt sich um wörtliche Rede, um einen Zuruf mit hämischem Unterton. Der Satz darf also keine komplizierten Verzweigungen enthalten. Die Wortwahl hängt ausschließlich vom Satz ab: „hindern“ für empêcher läßt sich nicht verwenden, im Gegensatz zu „verhindern“:

    Bathilde, komm verhindern, daß dein Mann Cognac trinkt!

Oder, um das Appellative des donc wiederzugeben:

    Bathilde, du mußt verhindern, daß dein Mann Cognac trinkt!

2. Ein Satz aus Jean-François Bergier, Die Schweiz in Europa.

    L'imagination créatrice des Européens a probablement été leur plus forte et leur plus constante valeur communautaire - même lorsqu'elle a été mise au service de leurs conflits internes.

Ich hätte ihn ohne weiteres so übersetzen können:

    Der schöpferische Erfindergeist der Europäer war möglicherweise ihr stärkster und beständigster Gemeinschaftswert - selbst wenn er in den Dienst ihrer inneren Konflikte gestellt wurde.

Aber da geht eine Markierung verloren, die das Original dadurch setzt, daß es die beiden Adjektive vor das Substantiv stellt. Ich versuche auch im Deutschen eine Markierung:

    Der schöpferische Erfindergeist der Europäer war möglicherweise das, was sie als stärksten und beständigsten Wert gemeinsam hatten - selbst wenn er in den Dienst ihrer inneren Konflikte gestellt wurde.

3. Aus demselben Buch:

    bien que, par la force des choses, quelques paysans se fussent imposés par une plus grande fortune en champs, prairies ou cheptel, par la propriété d'une maison forte, par le prestige ou simplement par leur bon sens.

Die Verarbeitung der Informationen im Satz wird erleichtert durch die Gruppe imposés par, die eine Reihe von Detailinformationen ankündigt. Wenn ich die Struktur unbesehen übernehme, rutscht im Deutschen das Verb nach hinten.

    obwohl natürlich einige Bauern sich durch ein größeres Vermögen an Land, Weiden oder Vieh, durch den Besitz eines Hauses aus Stein, durch ihr Ansehen oder durch ihren gesunden Menschenverstand durchsetzten.

Ich mache einen Kausalsatz, der bedeutend lesbarer und obendrein kürzer ist:

    obwohl natürlich einige Bauern den Ton angaben, weil sie mehr Land, Weiden oder Vieh besaßen, ein Haus aus Stein ihr eigen nannten, angesehen waren oder einfach viel Verstand hatten.

4. Wieder aus demselben Buch ein Satz, der im Französischen sehr gut lesbar ist:

    Les légères toiles de lin produites tout autour du Lac de Constance constituent à la fois une exception par leur précocité (XIIe–XIIIe siècles) et leur longévité (leur production ne déclinera qu'au XVIIIe: plus de cinq siècles de réputation présente un record inégalé ...), mais aussi par leur caractère peu typique.

In einer Rohübersetzung stand:

    Die feinen Leintuche, die rund um den Bodensee hergestellt wurden, bildeten eine Ausnahme, sowohl hinsichtlich des frühen Zeitpunkts des Entstehens (12./13. Jahrhundert) als auch des langen Bestehens dieses Gewerbes (der Niedergang erfolgte erst im 18. Jahrhundert, und ein über fünfhundertjähriges Florieren ist ein beachtlicher Rekord!), aber auch hinsichtlich des nicht sehr typischen Charakters der Ware.

Mit der Präposition „hinsichtlich“ als Scharnier ist der Satz zwar gut strukturiert, aber vom diskret eleganten Stil des Autors ist nichts mehr spürbar. Ich versuchte ein Symmetriemuster, das andere Wortentscheidungen und etliche Wortverschiebungen verlangte:

    Die berühmte leichte Leinwand, die rund um den Bodensee gewebt wurde, bildete insofern eine Ausnahme, als dieses Gewerbe sehr früh entstand (12.-13. Jahrhundert), sehr lange Bestand hatte (fünfhundert Jahre bis zum Niedergang im 18. Jahrhundert, ein unerreichter Rekord), und seine Erzeugnisse zudem untypisch waren.

5. Wenn Jean Rouaud kurze Sätze schreibt, kann es höllisch schwer werden, weil er überhaupt keinen Raum für Umschreibungen läßt, Paraphrasieren ist ausgeschlossen. Für folgende zwei Zeilen hatte ich mehr als zwei Dutzend verschiedene Varianten, nur weil ich die syntaktische Vorgabe nicht sprengen wollte. Der Kontext: In einem Medaillon, das eine alte Dame ihr Leben lang getragen hat, findet man nach ihrem Tod ein Photo:

    la photographie jaunie d'un homme en uniforme, à la prestance d'avant le carnage, c'est-à-dire en costume de bal, et qui fixait l'éternelle jeune fille depuis plus d'un demi siècle.

Das Wort prestance ist mit „Schneid“ nur unzulänglich wiedergegeben, ich verstärke es, indem ich der Uniform das Adjektiv „schmuck“ beigebe, und den Verlust insgesamt auszugleichen versuche, indem im folgenden eine Chance des Deutschen nutze: Das costume de bal wird zur „Aufforderung zum Tanz“, womit ich auch gleich eine Nebensatzkonstruktion eingespart habe. (Und was mit carnage gemeint ist, weiß der Leser aus dem Kontext: er versteht die Anspielung mit „ahnungslos“ sehr gut.)

    die vergilbte Photographie eines Mannes in schmucker Uniform, mit dem Schneid des Ahnungslosen, die Aufforderung zum Tanz im Blick, den er seit über einem halben Jahrhundert auf die ewig ein Mädchen Gebliebene heftete.

6. Bei langen Sätzen von Rouaud fallen natürlich gewaltig Späne. Der Satz regiert dann geradezu diktatorisch. Ein eher kurzes Beispiel aus dem Porzellanladen, die alltägliche Frühstücksstimmung im Elternhaus beschreibend (die verwitwete Mutter führt ein Haushaltswarengeschäft):

    Ce qui nous a agacés longtemps, cette impression de ne pas faire le poids face à la raison du commerce, de passer après madame X et le verre brisé de son service auquel elle tient tant car c'est un cadeau de son mariage reçu de son oncle et de sa tante, ceux qui habitent dans le village de, informations de toute première importance dont maman scrupuleusement nous tiendra informés, tandis qu'entre deux coups de sonnette à la porte du magasin, debout près de la cuisinière en émail blanc, elle avale d'une traite son café froid en grimaçant, s'apprêtant immédiatement à reprendre son service, glissant, au moment de reposer tasse et soucoupe sur la table: chaud, c'est quand même meilleur, avant de volers vers le nouvel arrivant …

Unter anderem ist ein ganzer Satzteil zum Adverb „sprungbereit“ geschrumpft. Das Verb hintanstehen ist vom Satz diktiert: Ich brauchte ein Verb, das einen „Rattenschwanz“ einleiten kann:

    Lange Zeit ärgerte uns das Gefühl, weniger zu gelten als die Ladenräson, hintanstehen zu müssen hinter Madame X und dem zerbrochenen Glas aus ihrem Service, an dem sie hängt, weil es ein Hochzeitsgeschenk ist von ihrem Onkel und ihrer Tante, die dort und dort wohnen, alles ungeheuer wichtige Details, über die uns Mama haarklein unterrichtet, während sie, bevor die Ladentür das nächste Mal klingelt, sprungbereit am weiß emaillierten Kochherd lehnend, den erkalteten Kaffee mit einer Grimasse hinunterstürzt und beim Abstellen von Tasse und Untertasse konstatiert: Warm schmeckt er schon besser, bevor sie zum nächsten Kunden eilt …

7. Weiteres Beispiel aus Rouauds jüngstem Roman: Meine alten Geliebten. Nach langem Todeskampf ist die Mutter gestorben. Der Erzähler und seine Schwestern sind noch völlig benommen, doch am nächsten Morgen holt eine nüchterne Realität sie ein, zum Beispiel der Sargkauf:

    Entre fous rires et larmes contenus, vous vous appliquez à paraître attentifs à l'argumentaire du vendeur, recueilli, tenu malgré tout de faire l'article, de recommander celui-ci plutôt que celui-là, qui est très bien aussi, oui, plus sobre, et garanti pur chêne, conscient des circonstances qui l'empêchent de se coucher dans l'un d'eux, capitonné de satin violet, pour en vanter le confort, ou d'en agripper un autre par les poignées en laiton en expliquant qu'elles supporteraient un cadavre de trois cents kilos.

Durch die Partizipien ist der Satz trotz des Einschubs (der wörtliche Rede ist!) problemlos lesbar. Ich habe an einer Stelle ziemlich „komprimiert“, um Kommata zu vermeiden, und außerdem eine Symmetrie von zwei Relativsätzen mit Unterverzweigungen („weshalb“) eingeführt:

    Zwischen Lachanfall und Weinkrampf schwankend, zwingst du dich zu höflichem Interesse für die Darlegungen des Verkäufers, der die Pietät wahrt, aber auch Umsatz machen muß, weshalb er eher diese Ausführung empfiehlt als jene, obwohl auch eine gute Wahl, ja, etwas schlichter, garantiert Eiche massiv, und der sich zu benehmen weiß, weshalb er sich nicht zwecks Demonstration des Liegekomforts in jenen dort, der mit violettem Samt ausgeschlagen ist, hineinlegt, oder diesen hier an den Messinggriffen packt und damit wirbt, die würden eine Leiche von dreihundert Kilo aushalten.

Gekürzte Fassung eines Referats im LCB am 28. Oktober 2001.
© Josef Winiger