Zur Übersetzungsproblematik von:
Jean-François Bergier, Die Schweiz in Europa, Pendo, Zürich 1998.


Zum Autor

Jean-François Bergier, geboren 1931 in Lausanne, gehörte mit Georges Duby, Jacques Le Goff und anderen zur ersten Generation von Braudel-Schülern; er bezeichnet sich ausdrücklich als Annaliste. Bis zu seiner Emeritierung war er Direktor des Instituts für Geschichte der ETH in Zürich und hatte deren französischsprachigen Lehrstuhl für Geschichte inne. Er gilt international als führender Experte der Wirtschaftsgeschichte des Alpenraums. Einige seiner Werke, wie die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz oder die brillante Monographie Wilhelm Tell. Realität und Mythos, sind Referenzwerke. Von einer größeren Öffentlichkeit wurde er freilich erst wahrgenommen, als die Schweizer Regierung ihn mit der Bildung und Leitung der als »Kommission Bergier« bekannten Internationalen »Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg« beauftragte
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Zum Buch

Die Schrift ist ein Pro-Europa-Plaidoyer, mit der der 1992 in die schweizerische Europa-Debatte eingriff. Kern der Argumentation ist eine historische Analyse: Bergier zeigt auf, daß die Schweiz selbst zuerst ein sich integrierender Wirtschaftsraum war, bevor sie politisch Gestalt annahm, und daß sie all die Jahrhunderte hindurch auf Europa hin ausgerichtet war. Er entwickelt er aber auch wichtige Gedanken zur europäischen Einigung, die den Schweizer Horizont übersteigen und der Schrift eine allgemeine Bedeutung verleihen. Hanno Helbling bezeichnete das Buch in der NZZ als »Pflichtlektüre für alle, die über das Europaverhältnis der Schweiz zuerst nachdenken und dann etwas sagen wollen.«
Die literarische Qualität des Textes ist bemerkenswert hoch. Der Anspruch, mit stilistisch anspruchsvollen Texten essayistisch an die historische Wirklichkeit heranzugehen, ist bei Bergier nicht nur ästhetische Präferenz, sondern eine wesentliche Komponente seines Verständnisses von Geschichtsschreibung.

Zur Übersetzung

Bergiers dichte, differenzierende Schreibweise ist nicht leicht wiederzugeben. Die Übersetzungsarbeit ist so anspruchsvoll wie bei qualitativ hochstehender Belletristik. Sie verlangt hohe Aufmerksamkeit auf Wortbedeutungen, Nuancen, Anspielungen usw. Jeder Satz ist auszutarieren, Spannungsbögen müssen erhalten bleiben. Von den Prinzipien der Belletristik-Übersetzung bin ich aber auch teilweise bewußt abgewichen im Interesse der Wiedergabe einer dezenten und dennoch eindringlichen Rhetorik. Das bedeutet, daß dem Satz ebenso hohes Gewicht zukommt wie dem Wort; die Wiedergabe der lexikalischen Wortbedeutungen darf auf keinen Fall seine Dynamik beeinträchtigen oder zerstören. Ich muß mir also oft größere Freiheit gegenüber dem Wortlaut nehmen.
 

Kleine Dokumentation meiner Arbeitsweise anhand eines herausgegriffenen Abschnitts

(Original S. 47, 2. und 3. Absatz:)
Frileux sous le grand vent d'Europe qui balaye leur pays, les Suisses volontiers se réfugient à l'abri de ce qu'ils appellent leur Sonderfall, leur »cas unique«. Cest commettre une pétition de principe. Bien sûr qu'il y a un cas particulier de la Suisse, comme il y en a de chacun de ses Cantons, comme il y en a de chacun des autres pays, sans quoi ils n'existeraient pas. La Suisse est bien l'effet d'une expérience singulière à l'intérieur de l'Europe, donc forcément dans le cadre, sous l'influence de celle-ci, sous sa pression même. Une expérience qui a mis en oeuvre ce moyen particulier qu'est la volonté de constituer une nation que rien d'autre n'a voué à cette qualité.
   La Suisse n'occupe pas, comme tant de ses partenaires, un espace géographique bien défini; ses frontières sont assez peu naturelles, que ne marquent systématiquement ni les fleuves, ni la ligne de crête des montagnes. Elles ne suivent pas le Rhône, elles débordent le Rhin à Schaffhouse et à Bâle. La Suisse enjambe les Alpes (ce que font plus ni l'Autriche, ni la France, ni l'Italie, ses voisins dans la chaîne), mais selon le dessin surréaliste qu'a tracé une histoire vraiment capricieuse, cédant ici une vallée, en reprenant ailleurs une autre.

(Übersetzung S. 56, 2. und 3. Absatz:)
Wenn den Schweizern ungemütlich wird, weil der Europa-Wind zu kräftig über ihr Land braust, ziehen sie sich gern hinter etwas zurück, was sie ihren »Sonderfall« nennen. Das ist ein schwerer Denkfehler. Natürlich gibt es einen Sonderfall Schweiz, so wie jeder Kanton und jedes andere Land ein Sonderfall ist, anders würde es gar nicht existieren. Die Schweiz ist sehr wohl aus einer besonderen Erfahrung innerhalb Europas entstanden, also im Rahmen, unter dem Einfluß, sogar unter dem Druck Europas. Das Besondere an dieser Erfahrung ist das eingesetzte Mittel, nämlich der Wille, eine Nation zu bilden, die durch nichts sonst dazu prädestiniert war.
   Anders als viele Partnerländer, bildet die Schweiz keinen geographisch abgegrenzten Raum; ihre Grenzen sind wenig natürlich, weder Flüsse noch Gebirgskämme zeichnen sie systematisch vor. Sie halten sich nicht an die Rhone, überschreiten in Schaffhausen und in Basel den Rhein. Die Schweiz greift über die Alpen hinweg (was ihre alpinen Nachbarn, Österreich, Frankreich und Italien, nicht tun), doch die surrealistische Grenzzeichnung ist das Werk einer höchst kapriziösen Geschichte, die bald hier ein Tal abgibt, bald dort eines dazuholt.

Die Problemstellen

Frileux:
Die für Bergier typische, leicht spöttische Metapher ist unbedingt zu erhalten. Keine brauchbare Entsprechung in den Wörterbüchern. »Ungemütlich« eine Chance des Deutschen; muß möglichst am Satzanfang stehen; ergibt auch markierte Stellung des NS (vgl. Glossar).

à l'abri de ce qu'ils
Substantivische Lösung von abri ergäbe unschönen Genitiv: »in den Schutz dessen, was sie...« Deshalb verbale Lösung, die zudem nicht länger ist als das Original.

Commettre une pétition de principe
»Petitio principii« unmöglich. Viele Möglichkeiten durchprobiert. Keine restlos befriedigende Lösung.

comme il y en a de chacun de
Wiederholung als intensivierendes Stilmittel. Wiedergabe durch Wiederholung von »Sonderfall« (vermeidet gleichzeitig doppelten Genitiv).

sans quoi ils...
»anders« klingt stärker als »sonst«. Pronomen »es« statt »sie«: anfechtbare Entscheidung.

est bien l'effet de
Verbale Wiedergabe von effet bietet zusätzlich die Möglichkeit des Perfekts, das hier einen Akzent setzt. Weil bereits »sehr wohl« für bien, bleibt forcément unübersetzt, sonst »Übergewicht« im Satz.

Europe . . . celle-ci . . . sa
»Europa« ans Satzende (»dickes Ende«), das gibt auch dem dt. Satz eine gewisse Eindringlichkeit.

qui a mis en oeuvre ce moyen particulier
Zahlreiche Varianten ausprobiert (vgl. Glossar): Erst Substantivierung von particulier und adjektivischer Wiedergabe von mis en oeuvre ergibt eine befriedigende Lösung.

que rien d'autre a voué à cette qualité
qualité
+ voué à => »dazu prädestiniert« (qualité ist wenig spezifisch, eigentlich nur Stützwort, »dazu« ist ausreichend; »prädestiniert« hingegen stärker und spezifischer als voué à). »Nichts sonst«: markierte Wortstellung, durch Original gerechtfertigt.

n'occupe pas
Wortproblem. Weil schwächer wiedergegeben, Satzumbau: Zwei Negationswörter, »anders« und »keinen«. Dadurch Einschub an den Satzanfang.

ne suivent pas . . . débordent
Das Deutsche bietet »sinnlichere« Verben an: Ausgleich für den Anschaulichkeitsverluste anderswo.

ce que ne font plus ni . . . ni
»weder - noch« weggelassen, um »ihre alpinen Nachbarn« unterbringen zu können. »höchst« statt »wahrhaft« aus rein klanglichen Gründen.

cédant . . . en reprenant
Symmetrie durch »bald . . . bald« wiedergegeben. Bedeutung von en (»dafür« oder »hingegen«) dieser Symmetrie geopfert.