Jean Rouaud - Meister der Satzrhythmik
Rouauds erster Roman, Les champs d'honneur (deutsch Felder der Ehre) machte ihn über Nacht berühmt und bescherte ihm den Prix Goncourt. Mit dem Buch hatte er eine Art Familiensaga begonnen, in der zunächst die Vorfahren geschildert werden. Das zweite Buch, Hadrians Villa in unserem Garten, ist dem Vater gewidmet; das dritte, Die ungefähre Welt, der eigenen, vom frühen Verlust der Vaterfigur überschatteten Jugend (alle drei wurden übersetzt von Carina von Enzenberg und Hartmut Zahn). Der vierte Roman, Der Porzellanladen, ist eine Hommage an die Mutter. Diese tritt noch einmal auf in der ersten Hälfte von Meine alten Geliebten, dem fünften, den Zyklus abschließenden Roman. (Die Originale sind bei Éditions de Minuit erschienen, die deutschen Übersetzungen bei Piper.) Ähnlich wie Proust in der Suche nach der verlorenen Zeit schreibt
sich Rouaud mit den fünf Büchern an die eigene Vergangenheit und Herkunft heran. Allerdings steht bei
ihm nicht der Erzählende im Mittelpunkt – zumindest äußerlich –, sondern jeweils ein Angehöriger.
Daß der Autor dennoch der eigentliche Handelnde ist, merkt man erst mit der Zeit. Die Figuren und Geschehnisse
werden nicht konventionell beschrieben, sie sind vielmehr Gegenstand einer „Suche”, die natürlich die
des Schreibenden ist. Die Erzählperspektive – und häufig auch die Erzählform – ist die des Selbstgesprächs
oder vielmehr eines Dialoges mit dem Leser, bei dem das fiktive Gegenüber im Französischen mit vous
, im Deutschen mit du angesprochen wird; das Wort ich kommt nur an wenigen Stellen vor. Meisterschaft der Satzrhythmik Rouaud entgeht dem Narzißmus, indem er seine Bücher mit unerbittlicher Strenge literarisch formt. Er schreibe, „um Literatur zu machen”, sagte er einmal unter ausdrücklicher Berufung auf Proust. Unerbittlichkeit und außerordentliches Talent lassen seine „Suche” zum Vorstoß in literarisches Neuland werden. Unter anderem wertet er die Mündlichkeit auf, indem er deren organische Rhythmik und Dynamik für die geschriebene Literatur fruchtbar macht (vielleicht ist dies ähnlich bedeutend wie Bartoks Fruchtbarmachen der Rhythmik traditioneller Volksmusiken für die Kunstmusik). Seine Sätze folgen also nicht einem vorgegebenen „Takt”, sie sind mal kurz, mal lang, mal zäh fließend, mal fast atemlos sprudelnd – je nach dem Gemütszustand, in den sich der Erzähler durch das Vergegenwärtigen bestimmter Episoden versetzt sieht. Diese Sätze sind bis ins kleineste Detail durchkonstruiert und rhythmisch austariert. Oft sind sie mehrere Seiten lang und voller Partizipialkonstruktionen, Relativsätze und Einschübe. Zudem baut Rouaud lange „Spannungsbögen“ auf, die über zehn, zwanzig oder mehr Seiten hinweg reichen, wobei jeder Satz - meist mit einer Partikel - an den vorhergehenden anknüpft, so daß ein ganzes Buch im Grunde nur aus einem guten Dutzend Sätzen besteht. Für die Übersetzung genügte intuitives Equilibrieren nicht, die Syntax
mußte nach den Gesetzmäßigkeiten und Möglichkeiten des Deutschen neu austariert werden. Der Leser sollte
ja nicht ihre Länge wahrnehmen, sondern lediglich eine Art Steigerung des Tempos, eine Dynamik.
Dazu mußte ich mir einige „handwerkliche Verfahrensweisen“ zurechtlegen, die sich im Verlauf der Arbeit
an den beiden Romanen konkretisierten. Anhand der folgenden Textprobe versuche ich sie zu benennen (in
der Übersetzung auf die Anmerkungsziffern klicken).
1.„Auf den Tag genau bestimmen“ für dater: Das Verb „datieren“ wirkt nicht nur papieren, es hätte auch zu wenig „Orientierungsfunktion“. Außerdem kann ich nun la sortie verbal in einem Nebensatz wiedergeben. „Datum“ im nächsten Satz für de ce moment. 2.consulter und repérer = „im Sterberegister ... zu forschen“. Ein Verb eingespart („Komprimierung“). 3.Eine Satzsymmetrie hergestellt, die im Original nicht in dieser Deutlichkeit gegeben ist, aber dem deutschen Leser das Verständnis erleichtert: Drei „Verbklammern“, d.h. zwischen Modalverb und Infinitiv werden Bestimmungen plaziert: „könnten ... bestimmen“ - „bräuchten ... zu forschen“ - „könnten sagen“, jeweils mit einem Nebensatz. 4.saluant...: Bedeutung in das Substantiv „Begeisterung“ gelegt. So wird die Kitschgefahr vermieden, außerdem wird der Partizipialsatz zu einem kaum als Nebensatz empfundenen erweiterten Infinitiv. Auch Wortprobleme retour und le monde de... leichter lösbar. 5.Infititiv-Konstruktion rendre visite au défunt, après avoir attendu...„Kondolenzbesuch ... abstatten wollte“ (Sinn von attendu in „erst nach ... wollte“): Durch die Gruppierung von zwei Verben („abstatten wollte“) wird eine optische Reduzierung der Verbzahl („Komprimierung“) erreicht. Dadurch auch leichter zuzuordnender Relativsatz möglich statt umständlicher Wiedergabe von après avoir... 6.en posant: Klassischer Fall von „Stützwort“, das keine spezifische Aussage enthält, sondern lediglich die Satzarchitektur abstützt. Übersetzung kann entfallen. 7.Orientierungswort „schildern“ für expliquer: Wird eher wahrgenommen als „erklären“; der Leser weiß sofort, daß jetzt die Erzählung der Episode beginnt. Außerdem Nebensaatzgefüge weitergeführt statt neuer Hauptsatz, die dadurch entstehende Verbgruppe („zu schildern versuchte“) verstärkt die Orientierungswirkung. 8.tel que nous l'avions connu = „wie eh und je“: Nebensatz vermieden (Komprimierung); ich kann so auch den Teilsatz ohne Komma „durchziehen“, was wiederum erlaubt, daß ich elle avait cru voir nur mit „geglaubt habe“ wiedergeben kann (einige Zeilen später erweitere ich: „zu sehen geglaubt habe“ - als Erinnerungsstütze für den Leser, wie wir es ja oft beim mündlichen Erzählen tun). 9.„hintraten“ für 2 Verben: s'étaient déplacés und pour dire. 10.d'ombre: Sinn enthalten in „verkriechen müssen“. Das plastischere Verb „verkriechen“ lenkt die Aufmerksamkeit auf die nachfolgende Reihe von abhängigen Sätzen (Orientierungswort). 11.„möglichst unbemerkt“ für pour mieux se retirer et en arrière essayer de: Komprimierung, um einen Nebensatz zu vermeiden. - placé ist Stützwort, bleibt unübersetzt. 12.gemeint: in einem Film (wird durch den weiteren Kontext klar). 13.„ausgelöst“ als Orientierungswort an den Anfang gestellt. Wiedergabe der Partizipien durch Konjunktivformen, was angesichts des irrealen Charakters ganz natürlich wirkt.
- Orientierungswörter: Damit sich der Leser im Gestrüpp der vielen Nebensätze und Partizipialkonstruktionen nicht verliert, müssen sich immer wieder einzelne Wörter oder Wendungen aus dem Kontext herausheben. Das können sie beispielsweise dadurch, daß sie etwas ungewöhnlich sind oder eine stärkere „sinnliche Qualität“ haben. Erstaunlich oft sind diese Orientierungswörter Verben. -Komprimierung von Nebensatzkonstruktionen: Das Französische erlaubt bekanntlich ganze Rattenschwänze von Relativsätzen, die nicht mit einem Komma abgetrennt sind und deshalb eher als Attributivkonstruktionen empfunden werden; ebenso leicht lassen sich Partizipialkonstruktionen in komplizierte Sätze einbauen. Ich versuchte, wenn immer möglich die Zahl der Verben (bzw. Partizipien) zu reduzieren. Ein Weg dazu ist beispielsweise, die Bedeutung in ein Substantiv oder Adjektiv zu legen. Machmal lassen sich auch die Bedeutung zweier Verben in einem einzigen ausdrücken. Oftmals erweist sich aber auch das Verb (oder Partizip) als reines Stützwort, das gar keine spezifische Bedeutung hat und nur dazu dient, die französische Satzarchitektur zu abzustützen; im Deutschen kann es ganz einfach entfallen. In einigen Fällen half nur drastische Verkürzung, z.B. „sprungbereit“ für s'apprêtant immédiatement à reprendre son service (Original S. 114, Übersetzung S. 122).
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