Brief an eine Rezensentin


8. Mai 1991

Sehr geehrte Frau Dr. A.

als ich heute - der Verlag lieferte mir den zweiten Schub Rezensionen zu meiner Übersetzung von Bergiers Tell, darunter die Ihrige - feststellen mußte, daß mein Name immer noch in keiner einziger Rezension aufgetaucht ist, nicht einmal in einer bibliographischen Angabe, stand mir der Sinn nach geharnischtem Protest: Nicht nur habe ich als Urheber Anspruch darauf, genannt zu werden, es ist auch eine schlimme Entwürdigung, gezählte 1223 Stunden* an einer solchen Arbeit zu sitzen - sie ist härter als die des Schreibens, die ich auch kenne - und dann für die Rezensenten so ungefähr das zu sein, was ein livrierter Lakaie für eine durchlauchte Gesellschaft ist. Dabei wäre gerade Bergiers wunderbares Buch durch eine dilettantische Übersetzung mit Sicherheit ungenießbar geworden: Durch das 3. Kapitel würde man sich vielleicht noch durchkämpfen, doch stellen Sie sich eine Amateurübersetzung der letzten beiden Abschnitte von Kapitel 4 vor - spätestens hier wäre aus mit dem Lesevergnügen (S. 100-110; ich lege Kopien des Originals bei).

Sie kennen den Spruch vom "gläsernen Übersetzer", den man im Idealfall so wenig wahrnimmt wie eine makellose Glasscheibe. Für mich ist dieser Spruch ein ausgesprochen billiger Trost. Man stelle sich einmal vor, irgendwelche Kulturrevolutionäre à la Mao befänden, daß im Theater nur noch den Autoren Applaus gebühre, die Schauspieler hätten hinter dem Werk zurückzutreten und das Bedürfnis nach Anerkennung habe in der Kunst ohnehin nichts zu suchen - Sie wären genauso entrüstet wie ich. Es ist aber exakt unsere Situation: Wir arbeiten uns hart in eine Rolle hinein, bieten all unser fachliches Können auf, um den Autor glaubwürdig und für das Publikum gefällig zu interpretieren, danach gibt es Applaus für den Autor, für die "Verve seines Stils" oder seine "elegante Diktion" (seine?), der Interpret, der das Werk durch seine Schauspielkunst zugänglich gemacht hat, darf hinter den Kulissen Trübsal blasen. (Tatsächlich ist der Schauspielberuf der unserem Handwerk wohl am nächsten verwandte; auch der Vergleich mit Musikinterpreten wäre zutreffend.)

Offenbar gilt immer noch die Meinung, daß, wer eine Fremdsprache einigermaßen beherrsche, auch übersetzen könne. Sie werden jetzt sagen, es läge an uns Übersetzern, diese irrige Ansicht zu korrigieren, und Sie haben recht damit, weswegen ich das Protestieren sein lasse. Ich mute Ihnen lieber zu, daß Sie sich mit dem beiliegenden Material befassen. Bei ersten Hinsehen erscheint meine Übersetzung als sehr frei, ein bißchen "wie mit links". Dieser Eindruck täuscht gründlich: Mir war von Anfang an klar, wie wesentlich Jean-François Bergiers fein nuancierender Stil für das Buch ist, daß also auch dieser zu übersetzen, d.h. ein deutsches Gegenstück zum Stil des Originals zu schaffen war. Diesen Stil hatte ich nicht, ich mußte ihn regelrecht erfinden; erst gegen Ende der Rohübersetzung hatte er sich herausgeschält. Dann wurde jeder Satz austariert, bis er flüssig, wie selbstverständlich klang (und trotzdem exakt dasselbe sagte wie der Originalsatz). Oft war nicht zu vermeiden, daß der Text durch die Übersetzung an sprachlicher Schönheit und Lebendigkeit verlor; ich versuchte solche Verluste wettzumachen, indem ich anderswo Chancen wahrnahm, die das Deutsche bot. Stellen, an denen ich eine Stunde und mehr arbeitete oder wo mir ein glücklicher Einfall zuflog, nahm ich ins Glossar auf, von dem ich ebenfalls einige Seiten beilege (insgesamt enthält es an die 500 Einträge).
(...)

Mit freundlichen Grüßen
Josef Winiger


Die Antwort


Sehr geehrter Herr Winiger,

haben Sie vielen Dank für Ihren Brief und die anliegende Zusendung. Ich akzeptiere Ihr Problem, das nicht Ihr persönliches ist, sondern das eines Berufsstandes. Ich sehe auch ein, daß wir - die Rezensenten - mehr auf die Übersetzer aufpassen müßten. Woraus Sie auch hier aus der Verwendung des "wir" entnehmen, daß es sich hier ebenfalls um ein Problem eines Berufsstandes handelt, von der allgemeinen Nichtbeachtung der literarischen Übersetzer in Verlagen etc. ganz abgesehen
(...)

Mit freundlichen Grüßen
Dr. E. A.

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* Weil ich gemerkt hatte, wie leicht man sich mit nachträglichen Schätzungen große Löcher in die eigene Tasche lügt, habe ich einige Jahre lang in Handwerkermanier allabendlich meine Arbeitsstunden notiert.