Später Dank an Elmar Tophoven[...] Sie werden mir es auch nachsehen, wenn ich die Gelegenheit nutze, eine alte Dankesschuld abzutragen. Dasselbe hat schon Walter Weideli getan, der französischsprachige Träger des ersten Prix lémanique: Er dankte dem Übersetzer Gustave Roud dafür, daß er ihn – in französischer Übersetzung – Hölderlin entdecken ließ. Und ich möchte, wie er, einem großen Übersetzer danken: Elmar Tophoven, der 1988, ein Jahr vor seinem Tod, zusammen mit Philippe Jaccotet den zweiten Prix lémanique erhielt. Ich schulde ihm viel. Ich habe ihn ganz zu Beginn meiner Übersetzerlaufbahn Anfang der achtziger Jahre kennengelernt. Als Übersetzer von Beckett und fast aller bedeutenden Vertreter des Nouveau Roman war er so berühmt wie kaum ein Übersetzer in Deutschland, und von mir aus hätte ich mich wohl kaum getraut, auf ihn zuzugehen. Aber er kam mit der größten Selbstverständlichkeit auf mich zu, so wie er auf jeden Neuling im Fach zuging, wenn dieser nur Interesse zeigte. Er wurde zum väterlichen Freund – der erste Grund für meine Dankbarkeit. Der zweite Grund: Elmar Tophoven hat mich für eine Art des Literaturübersetzens begeistert, die meiner – damals noch unbewußten – Idealvorstellung entsprach. Er war nicht nur ein begnadeter Übersetzer, dessen Texte sich wunderbar lasen, er war der Pionier einer handwerklich bewußten, professionellen Art des Herangehens an die übersetzerischen Aufgaben. Er vertrat – in den siebziger und achtziger Jahren wurde er dafür noch angefeindet – die Auffassung, der Übersetzer dürfe nicht blind irgendwelchen Eingebungen vertrauen, sondern müsse sich selbstkritisch Rechenschaft geben über sein Tun, er müsse sagen können, warum er etwas so und nicht anders übersetzt. Das traf sich mit meiner persönlichen Neigung: Handwerkliche Erfahrung und darauf gründende Fertigkeit habe ich schon als Kind bewundert, und ich sagte mir: Wenn Maler von ihrer Kunst behaupten, sie sei zu fünfundneunzig Prozent Handwerk, dann wird es beim Literaturübersetzen nicht anders sein. Auf irgendwelche genialische Potentiale in mir mochte ich mich jedenfalls nicht verlassen. Der dritte Grund meiner Dankbarkeit: Elmar Tophoven war wahrscheinlich der erste Literaturübersetzer, der seine Kunst auch lehrte. Zuerst einige Jahre als Deutsch-Lektor an der Sorbonne, dann, als Nachfolger von Paul Celan, 25 Jahre lang an der Ecole normale supérieure. Wohl mit Studenten dieser Pariser Eliteschule organisierte er schon 1970 in einem Dorf außerhalb der Stadt eine erste mehrtägige Übersetzerwerkstatt. An einer anderen solchen Werkstatt, die 1983 unter seiner Leitung im niederrheinischen Straelen, seinem Geburtsort, stattfand, durfte ich teilnehmen. Etwa zwanzig Übersetzer – die eine Hälfte übersetzte vom Deutschen ins Französische, die andere Hälfte in der Gegenrichtung – kamen für eine Woche zusammen, um die Übersetzungen zu diskutieren, die jeder eingebracht hatte. Für mich war die Erfahrung mehr als faszinierend: Ich hatte das Gefühl, in dieser Woche so viel gelernt zu haben, wie ich in einsamer Ausübung meines Berufs in Jahren nicht hätte lernen können. Und es war eine seltsame Begeisterung aufgekommen, die schwer zu beschreiben ist – Musiker etwa erzählen von Ähnlichem, wenn sie eine Woche lang in Klausur gemeinsam gearbeitet haben. Die Erinnerung an diese Werkstatt ließ mich Jahre später einem Kreis von Kolleginnen und Kollegen vorschlagen, in Eigenregie etwas Ähnliches zu versuchen – das Europäische Übersetzerkollegium in Straelen bot inzwischen die Bedingungen. Ich konnte Elmar Tophoven nur noch brieflich von unserem Vorhaben berichten: Während wir im Kollegium über Wortentsprechungen, Satzkonstruktionen und Stilebenen diskutieren, rang er ein paar Häuser weiter mit dem Tode. Seine Idee aber hatte gezündet: Aus den Versuchen in kleinerem Maßstab wurde die einwöchige Werkstatt Deutsch und Französisch, die seit 1994 jedes Jahr stattfindet – und inzwischen weitere Kreise zieht: Eben erst wurde eine Werkstatt Deutsch-Slowakisch und Deutsch-Tschechisch angekündigt. Eine Werkstatt Deutsch-Russisch gibt es seit mehreren Jahren, Deutsch-Polnisch seit kurzem, Deutsch-Italienisch, Deutsch-Spanisch und Deutsch-Englisch finden dieses Jahr erstmals statt. Alle diese Werkstattgespräche sollen zur Dauereinrichtung werden. Es hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß sie ein Mittel der Wahl – vielleicht das Mittel der Wahl – sind, wenn es um unsere Fortbildung und um die Beförderung unserer Kunst geht. Erfinder und großer Vorbildgeber ist ganz eindeutig Elmar Tophoven. Seine andere große Erfindung sind bekanntlich die Übersetzerkollegien: Nach dem Vorbild von Straelen gibt es heute in ganz Europa ein Dutzend oder mehr solcher Häuser, wo Übersetzer in Klausur arbeiten und mit Kollegen aus aller Herren Länder zusammentreffen können – mit dem Übersetzerhaus Looren seit einem halben Jahr auch in der Schweiz. Ein weiteres Mittel zur Förderung übersetzerischer Professionalität, für das Elmar Tophoven mit großer Energie jahrelang warb, schien hingegen Utopie zu sein: das „transparente Übersetzen". Er praktizierte die von ihm geforderte kritische Selbstbeobachtung selbst, indem er den Übersetzungsvorgang Satz für Satz protokollierte und seine Protokolle, die oft umfangreicher waren als der Text selbst, auch zugänglich machte. Von uns Kollegen hat er nie erwartet, daß wir es ihm nachmachten, wenigstens nicht in dieser Ausführlichkeit, und gegen Ende seines Lebens meinte er selbst, seine Hoffnungen seien wohl utopisch. Ob sie so utopisch waren? Ich bin mir heute nicht mehr so sicher. Als Grund dafür, daß seine Arbeitsweise keine Nachahmer fand, nennt man üblicherweise den ausgeprägten Individualismus der Übersetzer: Jeder habe seine eigenen Arbeitsmethoden. Das mag sein, doch mittlerweile finde ich es als Erklärung nicht mehr ganz stichhaltig. Denn Tophovens Hauptforderung, der Übersetzer müsse vom rein intuitiven „Blindflug" abkommen und sich Rechenschaft geben über sein Tun, ist heute bei sehr vielen Übersetzern eine schiere Selbstverständlichkeit – ihr Anspruch auf Professionalität gründet darauf. Und auch zum Austausch zeigen Übersetzer eine geradezu generöse Bereitschaft, das beweisen die Werkstattgespräche, in denen die Teilnehmer sich persönlich regelrecht exponieren, indem sie eigene Übersetzungen, dazu noch im Entstehen begriffene, zur Diskussion stellen. Außerdem: So festgelegt auf seine Arbeitsmethode, wie manche damals meinten, war Tophoven keinesfalls, das weiß ich aus persönlichen Gesprächen. Ihm ging es nicht um ein bestimmtes Verfahren, sondern um die Sache. Ich habe sie so verstanden: Wenn ich problematische Passagen – auch Wortprobleme stehen ja nie isoliert da, ihre Lösung ist immer nur im Kontext einer Passage gültig – in irgendeiner Form schriftlich entwirre, dann wird mein Zugriff gezielter, ich kann auch handwerkliches Können direkter einsetzen. Und wenn ich Schriftliches hinterlasse, können möglicherweise andere davon profitieren, mein oft stundenlanger Kampf mit dem Problem versinkt nicht im Nebel des Vergessens. Daß heute kein Übersetzer von einer solchen Arbeitsweise etwas wissen möchte, widerspricht meiner Erfahrung. Am Ende ist es – verzeihen Sie, wenn ich in weihevoller Stunde in solche Niederungen hinabsteige – bloß eine Software-Frage. Nötig wäre ein relativ simples Computerprogramm, das aber auf der ganzen Welt nicht aufzutreiben ist: Es müßte dem Übersetzer eine Art Schmierzettel zur Verfügung stellen, wo er für schwierige Passagen schrittweise eine Lösung erarbeiten kann, in dem er verschiedene Entwürfe untereinander stehen läßt, vergleicht, abwägt, sich fragt: warum geht das eine und das andere geht nicht – so wie ein bildender Künstler eine Reihe von Skizzen macht, bevor er ans Werkstück geht. Aber diese Schmierzettel müßten mit Hyperlinks gleichsam an den Übersetzungstext angeheftet bleiben, und das Übertragen der schließlich gewählten Variante in den Haupttext müßte per Mausklick automatisch geschehen, sonst verursacht das Hilfsmittel nur Mehrarbeit, und dann wird es nicht verwendet. Ich habe mir selbst nebenbei ein solches Programm gebastelt. Es ist mir seit fünfzehn Jahren eine große Hilfe, es kostet mich auch keinen zusätzlichen Zeitaufwand oder ein Mehr an Disziplin, eher im Gegenteil. Doch ich kann es nicht weitergeben, weil es kompliziert zu bedienen ist, Macken hat und obendrein ein bestimmtes Textverarbeitungsprogramm verlangt, das nicht das übliche ist. Man müßte schon professionelle Programmierer mit der Aufgabe betrauen, was natürlich die Kostenfrage aufwirft. Aber es müßte sich doch ein generöser Stifter finden, der eine solche Software entwickeln läßt. Es sei denn, eine Informatikabteilung und eine entsprechend interessierte philologische Abteilung an einer Universität vereinbarten eine Kooperation, um das digitale Skizzenbuch für Literaturübersetzer als gemeinsames Studienprojekt zu entwickeln. Der Philologie würde sogar ein Gewinn winken: Von übersetzungswissenschaftlicher Seite hört man ja häufig die Klage, es gebe kaum Werkstattberichte von Literaturübersetzern. Solche Schmierzettel-Dateien könnten wahre Schatzgruben sein! Vorgetragen bei der Verleihung des Prix lémanique de la traduction, Frauenfeld 24. März 2006 © Josef Winiger |