Zwischen Intuition und Konstruktion

Vor über zwanzig Jahren zitierte Elmar Tophoven den Nietzsche-Satz: „Es gibt Zeitalter, in denen der vernünftige Mensch und der intuitive Mensch nebeneinanderstehn, der eine in Angst vor der Intuition, der andere mit Hohn über die Abstraktion; der letztere ebenso unvernünftig, als der erstere unkünstlerisch ist.“ Tophoven selbst hatte beim Übersetzen mit gewaltigem Fleiß das eigene intuitive Tun beobachtet und protokolliert; er war der Überzeugung, daß „auch die 'intuitiven' Kunstgriffe letztlich Ergebnisse gewisser Gesetzmäßigkeiten sind“. Nachahmer fand er kaum, die Sammlung von Arbeitsprotokollen, die in den von ihm initiierten Übersetzerkollegien entstehen sollten, gelangten über einige Anfänge nicht hinaus. Das Kategorien-Raster, das er schon Ende der sechziger Jahre für die Protokollierung typischer Probleme und Lösungen vorschlug und selbst anwandte, erwies sich für eine Auswertung als zu wenig spezifiziert. Und sein Ideal des „transparenten Übersetzens“, das die intuitiven Entscheidungsprozesse durchschaubar machen wollte, war wohl auch in mehrfacher Hinsicht zu euphorisch und seiner Zeit voraus;  jedenfalls stieß es zu seinen Lebzeiten auf wenig Gegenliebe. Heute werden Tophovens Forderungen de facto von den meisten professionellen Übersetzern akzeptiert: Kaum jemand beruft sich nur noch auf künstlerische Inspiration, gerade von den Erfahrensten ist regelmäßig zu hören, ihr Tun sei zum ganz großen Teil Handwerk.

Die Schwierigkeit der Kategorisierung war Tophoven durchaus bewußt. Praktikable Lösungen erhoffte er sich von einer Zusammenarbeit zwischen der Linguistik bzw.  Übersetzungswissenschaft und der literarischen Übersetzungspraxis. Auch diese Hoffnung hat sich bis heute nicht erfüllt. Die Übersetzungswissenschaft beschäftigt sich allenfalls am Rande mit dem „Sonderfall“ der literarischen Übersetzung, und  die meisten literarischen Übersetzer gestehen, sie könnten mit den Übersetzungstheorien wenig oder nichts anfangen. Die objektive Schwierigkeit ist wohl zur Zeit folgende: Soweit die Übersetzungswissenschaften die Praxis intendieren, bringen sie für die literarische Übersetzung allenfalls Ergebnisse, die im Vorfeld zu berücksichtigen sind (Strategien, Loyalitätsaspekte usw.); da, wo das Übersetzen zur literarischen Tätigkeit wird, die Arbeit des Literaturübersetzers also erst eigentlich anfängt, sind die theoretischen Modelle keine Hilfe mehr. Andererseits haben die Literaturübersetzer den Wissenschaftlern auch wenig anzubieten, da sie ihr intuitives Arbeiten wenig reflektieren und mitteilen.

In letzter Zeit gab es Bemühungen, aufeinander zuzugehen. So hat Prof. Monika Doherty von der Humboldt-Universität Berlin einen Forschungsansatz entwickelt, der nach der  Objektivierbarkeit der intuitiven Arbeit des Übersetzers fragt, also explizit von seiner Praxis ausgeht. Ihre (unter dem Pseudonym Judith Macheiner veröffentlichten) Bücher wurden denn auch in Übersetzerkreisen mit Interesse aufgenommen und diskutiert. Und im vergangenen Jahr gab es auf Übersetzertagungen in Deutschland und in der Schweiz mehrere gut besuchte Veranstaltungen zum Thema Übersetzungspraxis und Übersetzungswissenschaft.

Auch die immer häufiger werdenden Werkstattgespräche sind ein Indiz dafür, daß bei den Übersetzern das Bedürfnis wächst, die intuitive Arbeitsweise zu reflektieren und sich  über Wege der Problemlösungen auszutauschen. Dabei fällt allerdings auf, daß fast ausschließlich über Wortprobleme diskutiert wird. Man ist sich zwar durchaus einig, daß das, was die gute Übersetzung ausmacht, weit mehr ist als die Summe der  glücklichen Wortfunde. Und man weiß auch, daß es zwischen der Suche nach Wortentsprechungen und jenen Qualitäten des Textes, die immer eine Frage der Begabung und der Sprachkunst sein werden, einen weiten Bereich gibt, der sich entscheidend  auf das Gelingen der Übersetzung auswirkt: Satzbau, Markierungen, Wortfolge, Abtönpartikel usw. Doch über Schwierigkeiten, die dieser Bereich bietet, wird kaum gesprochen, obwohl sie ebenso große Aufmerksamkeit verlangen wie die Probleme im  lexikalischen Bereich.

Diese „Sprachlosigkeit“ hat mehrere Gründe. Einer davon ist die vorherrschende Ansicht, der Literaturübersetzer könne sich bei der Lösung syntaktischer Probleme allein auf  sein Sprachgefühl stützen. Sicherlich ist die sprachliche Intuition letztlich entscheidend, sie ist gewissermaßen das Element, in dem sich das Literaturübersetzen bewegt. Dennoch ist zu fragen, ob dieses ausschließliche Bauen auf die  Intuition gerechtfertigt ist. Denn es ist wohl eines der Grundprobleme des Übersetzens: Die natürliche Sicherheit der sprachlichen Intuition ist beim Übersetzen zunächst gestört, wenn nicht überhaupt ausgeschaltet. Anders als der Autor eines  Originaltextes, der beim Schreiben den eigenen sprachlichen Impulsen folgen kann, sieht sich der Übersetzer fremdsprachlichen Vorgaben gegenüber, die bei ihm keine „spontanen“ Sprachimpulse auslösen. Mehr noch: Weil diese Vorgaben –  Wortbezüge, syntaktische Strukturen, phonetische Gebilde – in der Ursprungssprache anderen Gesetzmäßigkeiten folgen als in der Zielsprache, leiten sie die Intuition des Übersetzenden sogar in die Irre. (Es ist deshalb nur natürlich, wenn Dilettanten-Übersetzungen sprachlich unbeholfen sind.) Der Übersetzer muß also seinen Text künstlich aufbauen, Element für Element so gestalten und plazieren, bis das Ganze in der Zielsprache wieder stimmig wirkt.

Ein anderer Grund ist die Schwierigkeit der Verständigung: Welches sind die immer wiederkehrenden Probleme im syntaktischen Bereich? Vor allem: Wie soll man sie benennen?  Lösungen für lexikalische Probleme lassen sich relativ leicht in Glossaren sammeln und austauschen. Für die Übersetzungsprobleme im syntaktischen Bereich fehlt hingegen schlicht das Vokabular. Es fehlen Bezeichnungen, die einerseits für den Literaturübersetzer praktikabler sind als die zu spezialisierten Begriffe und Kategorien der Linguisten, andererseits aber doch eine systematische und wissenschaftlich fundierte Repertorisierung (z.B. in Datenbanken) erlauben.

Ein praktikabler Begriffs- und Kategorienapparat kann nur gemeinsam von Wissenschaftlern und Praktikern erarbeitet werden: Übersetzungswissenschaft, Linguistik und  Literaturwissenschaft müssen die analytische und systematisierende Kompetenz einbringen, erfahrene Übersetzerinnen und Übersetzer den Stoff in Form von beispielhaften Problemlösungen.

An der generellen Fruchtbarkeit einer solchen Zusammenarbeit kann es eigentlich keine Zweifel geben: Vom Bewußtmachen und Benennen seiner intuitiven „Kunstgriffe“ profitiert  jeder, selbst der erfahrenste Übersetzer. Das Reflektieren und Beschreiben der intuitiven Arbeit ist zudem die Voraussetzung dafür, daß das handwerkliche Können, das viele Übersetzerinnen und Übersetzer durch jahrzehntelange Praxis erworben haben, weitergegeben werden kann (in Werkstattgesprächen, Lehrveranstaltungen, Lehrwerken usw). Außerdem könnten dann die Übersetzer schlüssiger als bisher der Öffentlichkeit darlegen, was eine gute bzw. schlechte Übersetzung ausmacht und  woran sie zu erkennen ist (Rezensenten gestehen immer wieder ein, daß sie sich nicht zur Übersetzung äußern wollen, weil ihnen die Beurteilungskriterien fehlten).

© Josef Winiger