Die Rhetorik übersetzen

(Dankrede bei der Verleihung des Übersetzerpreises des C.H. Beck Verlages, Leipzig 27. März 1999)

Ich bedanke mich bei Herrn Bartenschlager für sein Lob [...] Ich bedanke mich natürlich beim Verlag C.H.Beck, bei Herrn Beck persönlich für die Auslobung dieses Preises, und bei Herrn Wieckenberg, der ihn angeregt hat. Ich bedanke mich bei den vielen Kolleginnen und Kollegen, die mich mit ihren Glückwünschen sehr bestärkt haben. Und das möchte ich auch einmal öffentlich tun: Ich bedanke mich bei meiner Frau, die hier im Saal sitzt. Sie akzeptiert nicht nur mit grandioser Selbstverständlichkeit seit bald zwanzig Jahren, daß sie als Gymnasiallehrerin drei Viertel des Familieneinkommens beisteuert, ich hingegen nur ein Viertel (obwohl ich ständig am Schreibtisch sitze und nur selten Zeit für gemeinsame Unternehmungen habe), sie hält mich dazu auch noch bei der Stange.

Auch dem Autor, Jean-François Bergier, habe ich etwas zu verdanken, nämlich die Herausforderung. Seine brillante Monographie über Wilhelm Tell, die ich vor knapp zehn Jahren zu übersetzen hatte, stellte mich damals vor eine Aufgabe, die mir neu erschien. Das Buch ist packend geschrieben, obwohl die Darstellung alles andere als populärwissenschaftlich ist, die Argumentation ist vornehm zurückhaltend, doch von hoher Kompetenz, und man spürt die Sympathie, die der Autor der mythischen Gestalt entgegenbringt und mit der er die historisch-menschliche Realität meint. Außerdem schreibt Bergier einen gepflegten Stil, der sehr dicht ist und eine ganz eigene Eleganz hat - eine Rezensentin schwärmte von der »eleganten Diktion des Westschweizers« (aufgrund meiner Übersetzung). Ich war hell begeistert von diesem Buch und von dieser Art der Geschichtsschreibung. Ich konnte gar nicht anders, als nach Möglichkeiten zu suchen, um all das wiederzugeben, was sich nicht auf das sogenannte Inhaltliche reduzieren läßt. Ich habe sehr lange für die Übersetzung gebraucht. Da ich dabei sehr eng mit Jean-François Bergier zusammenarbeiten mußte, trug mir die Arbeit auch seine Freundschaft ein. Sehr gerne übersetzte ich deshalb auch den Essay Die Schweiz in Europa - ich war wieder ähnlich fasziniert wie vom Tell.

Es gab inzwischen auch andere Bücher, die mich auf dieselbe Weise herausforderten. So daß die Sachtext-Übersetzung - obwohl ich liebend gerne auch Belletristik übersetze - zum speziellen Anliegen wurde. Ich möchte kurz skizzieren, worum es mir dabei geht.

In einem Brief an seine Übersetzerin Eva Moldenhauer schrieb Claude Simon neulich, der Übersetzer sei »ein 'Double' des Autors, denn wie dieser bemüht er sich, 'in' und 'durch' eine bestimmte Sprache, mit ihren Eigenheiten, ihren besonderen Wendungen, ihrer Musik und ihren Klängen, in der Vorstellung des Lesers bestimmte Bilder entstehen zu lassen. Das Übersetzen ist deshalb nicht einfach ein Umsetzen, wie die landläufige Meinung es will, sondern wirklich ein Hervorbringen.« Für die Belletristik-Übersetzung ist das inzwischen ziemlich allgemein akzeptiert: Ich darf mich nicht mit der Wiedergabe der Wortbedeutungen begnügen, ich muß erkennen, was der Originaltext außer dem reinen Inhalt aufweist, und ich muß versuchen, dies mit den »Eigenheiten« meiner Sprache wiederzugeben. Nur, wie ist es beim Sachtext: Hier gibt es zwar auch Metaphern, aber in der Regel geht es nicht darum, Bilder in der Vorstellung des Lesers entstehen zu lassen. Hier geht es um Gedanken, Argumente, Sachverhalte, Analysen, Theorien... Gilt also Claude Simons Feststellung für den Sachtext nicht?

Ich meine, sie gilt sehr wohl. Wir müssen allerdings das Wort »Bilder« durch das Wort »Rhetorik« ersetzen. Was meine ich mit Rhetorik? Eine über zweitausendjährige philosophische Tradition hat in unserem Denken eine Begriffsgläubigkeit, ja geradezu Begriffshörigkeit hinterlassen, die zwar längst erkenntnistheoretisch als unhaltbar entlarvt wurde, aber als Phantom noch mächtig präsent ist. Sie läßt uns immer noch spontan der naiven Annahme verfallen, daß die Wörter mit einem absoluten An-sich deckungsgleich sind und es nur »richtige« oder »falsche« Gedankengänge gibt. Wir wissen zwar, daß dieser Begriffs-Absolutismus permanent von der praktischen Wirklichkeit ad absurdum geführt wird und daß absolut geltende Aussagen wie mathematische Sätze oder physikalische Theorien die Ausnahme sind. Wir wissen auch bestens, daß, wenn uns jemand überzeugt oder zumindest beeindruckt, es längst nicht nur seine rationale oder inhaltliche Argumentation ist, die uns für seine Ansichten einnimmt, sondern die Tatsache, daß er überzeugend wirkt, weil er seinen Standpunkt menschlich überzeugend, »engagiert« vertritt. Einige italienische Humanisten der Renaissance gingen so weit, daß sie die engagierte oder, wie sie es nannten, »pathetische« Rede - die Rhetorik also - als unabdingbare Instanz in der Auseinandersetzung mit der tausendfältigen Wirklichkeit bezeichneten. Sie standen damit in diametralem Gegensatz zu den ratio- und absolutheitsgläubigen Hauptströmungen unserer Philosophie, doch schon Montaigne gab ihnen recht, indem er sein Werk Essais nannte - und was ist unsere heutige Sachbuch-Kultur anders als eine Bestätigung dieser Auffassung? Jeder Sachtext, bei weitem nicht nur der Essay, versteht sich mehr oder weniger explizit als Wortmeldung, als Rede-Beitrag, und es ist nicht nur akzeptiert, sondern auch willkommen, wenn neben der rein sachlichen Aussage auch nicht-rationale Komponenten zur Geltung kommen: Engagement für eine Sache, schriftstellerisches Talent, gepflegter Stil - mit einem Wort: Rhetorik.

Das sind für mich nicht rein philosophische Überlegungen. Sie haben direkte Konsequenzen auf meine Arbeit. Sie bedeuten, daß ich dem Sachtext gegenüber geradezu untreu bin, wenn ich nicht auch seine Rhetorik übersetze. Ich bin ihm untreu, wenn ich mich damit begnüge, nur die Wortbedeutungen wiederzugeben und sie in korrekten deutschen Sätzen zusammenzufügen. Auf diese Weise entsteht ein farbloser, meist auch mühsam zu lesender deutscher Text, vom schriftstellerischen Bemühen des Autors, von seiner im Text präsenten Persönlichkeit, bleibt nichts erhalten. Gerade bei Jean-François Bergier wäre dies besonders schlimm, denn die bewußt literarische Form, in der er sich ausdrückt, ist bei ihm - wie bei seinem Lehrer Fernand Braudel und der ganzen Schule der Annalisten - wesentlicher Teil seines Verständnisses von Geschichtsschreibung.

Wie gebe ich die »Rhetorik« wieder? Patentrezepte habe ich natürlich nicht, noch weniger kann ich irgendwelche Theorien vertreten. Es gibt ein paar handwerkliche Dinge. Davon nur eines: Ich achte sehr auf den Satzbau. Mein Satz muß genauso gut lesbar sein wie der Originalsatz - im Zweifelsfall eher besser-, er soll möglichst den natürlichen Duktus des mündlichen Vortrags haben, die Akzente sind gegeneinander auszutarieren. Und es ist keineswegs gleichgültig, wo welches Wort steht. Das Deutsche bietet ja sehr viele Möglichkeiten der Gewichtung und Fokussierung allein durch Stellung der Wörter im Satz. Ich muß also die Sätze »rhetorisch« gestalten, und mir dafür vielleicht eine Spur mehr Freiheit erlauben als bei belletristischen Texten: Wörter, die keine spezifische Aussage enthalten, sondern eher dazu dienen, die Satzkonstruktion zu tragen, darf ich durch andere ersetzen, die den deutschen Satz besser tragen - oft auch ganz weglassen. Schließlich soll mein Satz dem deutschen Leser genau das Lesevergnügen bereiten, das der Leser des Originals hat. Und wenn ich jetzt noch sage, daß ich auch den Ton des Originals treffen möchte, so wird offensichtlich, daß Anspruch und Arbeitsweise im Grunde dieselben sind wie bei der Belletristik-Übersetzung, nur daß ich nicht Bilder in der Vorstellung des Lesers erzeugen, sondern eine bestimmte Rhetorik reproduzieren will.

Ob ich neben dem Handwerklichen auch Inspiration beanspruchen soll? Ich weiß es nicht, ich bin etwas mißtrauisch dem Wort gegenüber: Was hat man nicht alles gerechtfertigt im Namen der Inspiration... Wenn mich etwas inspiriert, dann ist es die Arbeit mit der Sprache selbst, oder besser gesagt, der Zweikampf zwischen den Sprachen, dieses Gerangel: »was du kannst, das kann ich auch«. Diese Auseinandersetzung entwickelt eine Eigendynamik, sie bewirkt diesen eigenartigen Prozeß, dessen Ausgang ich überhaupt nicht kenne, wenn ich die Übersetzung anfange, und an dessen Ende diese »eigenständige Form im Deutschen« steht, wie die Jury es formuliert hat. Sie treibt mich, sie läßt mich auch diesen unmöglichen Beruf ausüben, ich kann sie so wenig lassen wie ein Musiker das Musizieren. Im Grunde ist ja auch meine Auseinandersetzung mit einem französischen Text dem recht ähnlich, was z.B. bei einem Pianisten geschieht, der ein Stück, oder bei einem Schauspieler, der eine Rolle erarbeitet. Auch sie interpretieren, auch sie haben eine Vorlage, die sie zum Leben erwecken müssen. Aus ihrer Auseinandersetzung mit dieser Vorlage entsteht ihre Interpretation. Und jeder Musiker und jeder Schauspieler weiß auch, daß seine Interpretation um so bessere Chancen hat zu gelingen, je sicherer er die Technik beherrscht. Nur haben die Musiker und Schauspieler dem Übersetzer gegenüber einen Vorteil: Bevor sie sich dem Publikum stellten, konnten sie sich jahrelang Technik erarbeiten, und sie sind auf Konservatorien beziehungsweise Schauspielschulen von Meistern ihres Fachs unterrichtet worden. Sie mußten nicht, jeder für sich alleine, das Rad neu erfinden und mehr oder weniger blind von Fehler zu Fehler stolpern. Das sehr hohe Niveau der heutigen Musikkultur oder Schauspielkultur ist ganz ohne Zweifel dieser Tatsache zuzuschreiben.

Über unsere Übersetzungskultur hingegen wird oft geklagt. Möglicherweise nicht ganz zu Unrecht, zumindest angesichts der Tatsache, daß heute fast jedes zweite belletristische Buch eine Übersetzung ist. Es dürfte aber klar sein, daß es nichts hilft, den Übersetzern zuzurufen: übersetzt endlich besser (die würden bloß zurückrufen: bezahlt uns besser, gebt uns vernünftige Abgabefristen usw.) Auch Paganini beispielsweise hat sich, als er in Deutschland in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf Tournee war, über die schlechten Orchester hierzulande beklagt. Es gab ja auch noch keine Konservatorien wie in Frankreich, wo die Revolution sie eingerichtet hatte. Inzwischen hat sich das gründlich geändert.

Beim Übersetzen hingegen ist man noch ungefähr da, wo man bei der ausführenden Musik oder beim Schauspiel vor hundertfünfzig oder zweihundert Jahren war. Das mag daran liegen, daß das Literaturübersetzen erst nach dem Zweiten Weltkrieg die quantitative Bedeutung erhalten hat, die es heute hat. Es liegt sicher aber auch daran, daß immer noch mehr oder weniger bewußt die landläufige Meinung gilt, wer eine Fremdsprache könne und im übrigen etwas Sprachbegabung besitze, der könne auch übersetzen. Mit etwa gleich viel Recht könnte man behaupten, wer Noten lesen könne, müsse auch Klavier spielen können.

Dieser Vergleich hinkt nur scheinbar: Natürlich, der Pianist muß - unter anderem - eine geradezu akrobatische Fingerfertigkeit erwerben, und dafür braucht er Jahre und Jahre. Aber ich stelle bei mir fest, daß ich ebenfalls zehn oder fünfzehn Jahre gebraucht habe, bis ich mich mit einiger Sicherheit an einen schwereren Text wagen konnte. Welche Art von »Akrobatik« hatte ich mir anzueignen? Es erstaunt mich ein wenig, daß auch unter Übersetzern so wenig über ein Phänomen gesprochen wird, das mir sofort auffiel, als ich zu übersetzen anfing, und mir arg zu schaffen machte: Sobald ich einen fremdsprachigen Text vor Augen habe, ist mein Deutsch weg, wie abgeschaltet. Kurz zuvor habe ich zum Beispiel einen Brief geschrieben, bei dem die Formulierungen nur so gesprudelt sind, und Minuten später ist es, als wäre gleichsam der Deutsch-Generator stillgelegt. Dabei müßte mein Deutsch gerade jetzt, beim Übersetzen, besonders aktiv sein, damit ich den geschickten Wendungen der Fremdsprache ebenso geschickte Wendungen meiner eigenen Sprache entgegensetzen kann. Aber anscheinend verhindert eine Art Sperrmechanismus der Psyche, daß zwei Sprachen gleichzeitig aktiv sind, vielleicht weil die Sprache so tief in unser Unterbewußtes hinabreicht. Und ich bin sicher, daß das nicht nur bei mir so ist; möglicherweise liegt in diesem Phänomen sogar der Grund, warum Menschen, die eigentlich Deutsch können, beim Übersetzen plötzlich scheinbar keines mehr können. Ich mußte mir also eine Technik erwerben, die diesen psychischen Sperrmechanismus überwindet und meine sprachschöpferischen Fähigkeiten auch dann aktiv sein läßt, wenn ich den fremdsprachigen Text vor Augen habe ─ im Idealfall sollte er sie geradezu stimulieren. Und der lange Weg zu dieser Technik war genau derselbe wie beim Pianisten: üben, üben, üben. Das heißt: hartnäckige, detailversessene Arbeit an den schwierigen Stellen, immer genauer hinsehen, warum man was wie tut. Elmar Tophoven nannte das »transparentes Übersetzen«.

Ich hatte das Glück, von Elmar Tophoven lernen zu können, doch das waren vielleicht insgesamt zehn Tage Werkstatt. Dazu kam das, was ich in der jährlichen Straelener Werkstatt gelernt habe. Von Ausbildung kann aber nicht die Rede sein. Denn was in verwandten Künsten wie Musik oder Schauspiel längst eine Selbstverständlichkeit ist, gibt es für das Übersetzen erst seit einigen Jahren und in Formen, die meines Erachtens - bitte, das ist ganz wörtlich gemeint: ich rede nur für mich selbst - nicht optimal sind, und zwar aus strukturellen Gründen:

Sie sind an Universitätsinstitute angegliedert, und das hat zwei entscheidende Nachteile: Der erste ist, daß sie permanent gefährdet sind, weil ihre Existenz vom enormen persönlichen Einsatz der Dozenten abhängt. Der zweite ist vielleicht noch grundlegender: Von einem Universitätsdozenten wird in erster Linie wissenschaftliche Qualifikation verlangt, bringen sie auch Praxis und Kunstfertigkeit mit, so ist das ein Glücksfall, rein akademisch gesehen aber nebensächlich. Überall sonst, wo eine Kunst gelehrt wird, gilt es jedoch als pure Selbstverständlichkeit, daß die Lehrer in erster Linie erfahrene Praktiker sind, möglichst ausgewiesene Meister des Fachs. Natürlich braucht der Übersetzer auch wissenschaftliches Rüstzeug, das ihm Linguisten und Literaturwissenschaftler vermitteln müssen, doch der Schwerpunkt des Unterrichts müßte wie bei Schauspielern oder Musikern ganz überwiegend auf der Praxis liegen.

Meine - wiederum ganz persönliche - Folgerung ist: Es braucht autonome, staatliche Hochschulen für Übersetzungskunst, genauso wie es staatliche Hochschulen für Musik, staatliche Hochschulen für Schauspielkunst und neuerdings auch eine staatliche Hochschule für Maskenbildner gibt. Dieser Schritt ist überfällig. Er ist auch letztlich eine Frage der Ökonomie: Die Erfahrung und das hohe Können, das sich inzwischen viele Kolleginnen und Kollegen angeeignet haben, gehen bisher für die Übersetzungskultur verloren, weil sie nicht weitergegeben werden können - in der Wirtschaft würde man von Ressourcenvergeudung sprechen.

Ich bin mir natürlich bewußt, daß eine solche Forderung nicht über Nacht verwirklicht wird. Mir geht es zunächst darum, eine Diskussion darüber anzuregen. Und es wird auch so sein, daß Verlage und Übersetzer als primär Interessierte sich zusammentun müssen. Je früher das geschieht, desto besser. Sollte ich mit meiner Einschätzung nicht allein auf weiter Flur stehen, bin ich gerne bereit, in einer ersten Arbeitsgruppe mitzuarbeiten, die diese Forderung konkretisiert.

© Josef Winiger 1999