Jean Rouaud - Laudatio für Josef WinigerMeine Bekanntschaft mit Josef Winiger verdanke ich einem traurigen Ereignis. Hartmut Zahn, der gemeinsam mit Carina von Enzenberg meine ersten beiden Romane übersetzt hatte, war gestorben. Weil seine Mitübersetzerin diese Arbeit, die für sie nur vierhändig vorstellbar war, nicht allein fortsetzen mochte, begab sich die Verlegerin auf die Suche nach einem neuen Übersetzer. Was weniger einfach ist, als man sich das vorstellt. Es gibt zwar Branchenverzeichnisse, denen man die Spezialisten des Sprachtransfers Französisch-Deutsch entnehmen kann, und man darf davon ausgehen, daß alle dort Aufgelisteten die auf der Verpackung aufgedruckten diversen Zubereitungsarten eines Tiefkühl-Fertiggerichts auf halbwegs verständliche Weise wiederzugeben imstande sind, obwohl man auch da auf manch seltsame Wendung stößt, aber hier sind wir, und das hat uns ja zusammenkommen lassen, um die Arbeit von Josef Winiger zu würdigen und auszuzeichnen, hier sind wir ja bei der Literatur, das heißt, nachdem wir uns den Tee eingeschenkt haben, für dessen Aufbrühen es die Bedienungsanleitung gibt, die auch zum Vorwärmen der Kanne rät – was keiner tut –, und nachdem wir dann eine Madeleine, deren Zusammensetzung fünfzehnsprachig auf dem Beutel angegeben ist, in ihn eingetaucht haben, werden wir gleich beim ersten Bissen, wenn das Gemisch aus Backwerk und Tee auf der Zunge zergeht, konfrontiert mit etwas ganz und gar Unübersetzbarem, obwohl auch das übersetzt werden muß. Anfänglich dreht es sich bloß um eine wärmende kleine Zwischenmahlzeit, um eine genießerische kleine Pause im Tagesablauf, so wie es auch die Lebenshilfeliteratur empfiehlt, und auf einmal läßt diese subtile Chemie der Empfindungen und fernen Anklänge eine ganze frühere Welt wieder lebendig werden. Davon stand natürlich weder etwas in der Anleitung noch auf dem Etikett. Und um das zu übersetzen, dieses erstaunliche Phänomen des Wiedererinnerns, dazu braucht es eine Sensibilität, die auch die erstarrten Wellen der Zeit auffangen kann, eine subtile Intelligenz, die sie zu entziffern weiß, und eine dichterische Begabung, die ihnen durch die Anziehungskraft der Wörter und ihr Zusammenspiel im Satz wieder Leben einzuhauchen vermag. Anders gesagt: das Etikett mit den Zutaten der Madeleines lesen und Proust lesen, das sind, wie man sich denken kann, zwei verschiedene Dinge. Wäre es dasselbe, dann wäre das Übersetzen eine Wissenschaft. Die Franzosen hätte D Day nicht mit jour J, sondern buchstäblich mit jour D übersetzt. Wie man sich vorstellen kann, hätte es bei den Nachrichtendiensten ein Durcheinander gegeben, und beim alliierten Generalstab und den Widerstandsgruppen wäre gar Panik ausgebrochen: Wann soll jetzt die Landung sein, am Tag D oder am Tag J ? Krächzte es hingegen im Radio: les sanglots longs des violons de l'automne, so war allen Eingeweihten klar, daß die Alliierten zur Landung ansetzten. Vergleichen wir Wort für Wort: Zu keinem Zeitpunkt der Geschichte wurde sanglots longs mit „alliierten Truppen" übersetzt, ebensowenig violons de l'automne mit „Landung in der Normandie". Das Übersetzen ist also eindeutig eine Sache der Interpretation. Ein Übersetzer interpretieret, und wenn er den Verlaine-Vers les sanglots longs des violons de l'automne hört, so sieht er, wenn er die Augen schließt, sofort eine riesige Armada, die sich an einem stürmischen Morgen am Sandstrand der Omaha Beach flach auf den Boden wirft. Hätte man dieselbe Methode angewandt wie für die in fünfzehn Sprachen angegebenen Zutaten der Madeleine, so hätte man les sanglots longs des violons de l'automne übersetzt mit: „die langen Schluchzer der herbstlichen Geigen". Und die Küsten der Normandie wären so leer geblieben wie die tartarische Wüste. Man würde immer noch warten. Also ist das Übersetzen keine Wissenschaft, das heißt kein solcher Mechanismus, bei dem dieselbe Ursache stets dieselben Wirkungen hervorruft und dieselben Wörter in anderen Sprache dieselben Entsprechungen haben. Wenn ich auf Proust angespielt habe – abgesehen davon, daß es nie schadet, wenn man die Idee der Literatur ganz oben festmacht, von wo sie bitteschön nicht herunterkommen soll, sonst ist es um sie geschehen, sonst wird sie zum bloßen Mitteilungsinstrument, zur Sprache der Verkaufsverpackungen und Bedienungsanleitungen, für die es auch ein fünfzehn Sprachen und dreitausend Dialekte beherrschendes Computerprogramm täte – so deshalb, weil ich Josef Winiger die erstaunlichste Lektion über das Übersetzen verdanke, die ich je gehört habe. Dabei bin ich, seit mein erster Roman in etwa zwanzig Ländern erschien, schon mit Problemen konfrontiert worden, an die man nie gedacht hätte. So besuchte mich die japanische Übersetzerin der Felder der Ehre in Montpellier. Die weite Reise aus Japan verdankte sie ihrem Verlobten, der ein Rugby-Fan war, sie hatte ihm angeboten, ihn nach Frankreich zu begleiten, wo damals die Weltmeisterschaft ausgetragen wurde. Der jungen Frau war Frankreich eine Sportmesse wert, und sie nutzte die Gelegenheit, um mich aufzusuchen. Ich konnte mir zwar denken, daß der Übergang vom Französischen ins Japanische einige Akrobatik bedingen würde, doch die Probleme, die sie mir darlegte, gingen weit über alles semantische Jonglieren hinaus. In Felder der Ehre tritt der Erzähler hinter ein kollektives „Wir" zurück, das je nach Kontext die Geschwisterrunde, die Familie, die Menschen auf dem Land, die Welt der kleinen Geschäftsleute, die Gemeinschaft der Gläubigen oder dergleichen umfassen konnte. Es half auch, eine vielgestaltige und zugleich homogene Gesamtschau des Milieus und der Zeit herzustellen, in der diese Geschichte spielt. Dieses Auflösen im Undifferenzierten einer Gruppe ist aber nicht möglich im Japanischen, wo mit dem Subjektpronomen der gesellschaftliche Stand markiert wird. Wenn ich mich recht erinnere, ging aus den Erläuterungen der jungen Frau hervor, daß das japanische „Wir" ein „Ich" in der Mehrzahl ist, und daß es eine ganze Reihe von Ichs gibt, je nachdem ob der Sprecher ein Mann, eine Frau, ein Kind, ein Greis ist, ob er von hohem oder von niedrigem Stand, gebildet oder ungebildet, klug oder dumm ist, und so habe sie sich, erklärte sie, für das Plural-Ich eines zehnjährigen Knaben aus bescheidenen Verhältnissen entschieden. Dagegen hatte ich nichts einzuwenden, außer daß für mich die Erzählung wesentlich von dieser Unschärfe lebte, die den Erzähler umgab, wogegen er jetzt enthüllt, entblößt, seiner Anonymität beraubt war. Der Sichtschutz des „Wir" sollte zudem ein Identitäsproblem verdecken. Mit jedem Transfert vom Französischen in eine andere Sprache vervielfachten sich die Beispiele. So wäre mir auch nie eingefallen, daß in Les hommes illustres, dem letzten von Hartmut Zahn und Carina von Enzenberg übersetzten Roman, das vous, mit dem dort der Leser angesprochen und gebeten wird, ins Sterbezimmer einzutreten, im Deutschen irgendwelche Probleme bereiten würde. Nach dem wenigen, was mir aus der Schule blieb, war für mich die Lösung ganz klar: Diese Höflichkeitsform war eindeutig mit „Sie" wiederzugeben. Zumindest glaubte ich das, bis mich Tanja Graf anrief, der ich das Erscheinen meiner Bücher in Deutschland verdanke und die als perfekte Zweisprachlerin das Übersetzungswerk aufmerksam verfolgte. Der Übergang vom vous zum höflichen „Sie" war mitnichten selbstverständlich. Für ein deutsches Ohr klingt das „Sie" zu sehr nach Kochrezept (schlagen Sie die Eier auf, verquirlen Sie das Eiweiß zu Eischnee, rühren Sie die Masse vorsichtig unter), was ganz und gar nicht zur Tragödie paßte, die ich mir zu erzählen vorgenommen hatte, nämlich: Am Tag nach Weihnachten stehen Sie nichtsahnend auf, und am Abend ist Ihr Vater tot. Ich stellte mir entsetzt den deutschen Leser vor, wie er vor dem erkalteten Leichnam meines Vaters steht und sich fragt, wann er salzen und pfeffern soll. An jenem Tag ist mir klar geworden, daß es das einzig richtige ist, sich auf die zu verlassen, die es können. Und zu denen gehört Josef Winiger, mit Bedacht ausgesucht von Tanja Graf, die ihn als einen der Größten seines Fachs betrachtete. Neben dem Austausch, der sich durch meine Romane ergab, hatte ich das Glück, zwei oder drei seiner Seminare begleiten zu können. Je länger ich ihn die Übersetzungen seiner Schüler besprechen hörte – etwa zu bedenken gebend, daß das französische pain nicht genau dem deutschen „Brot" entspricht, weil die symbolische Beziehung zum Brot nicht in jeder Gesellschaft gleich ist –, desto greifbarer wurde für mich das eigentlich Unmögliche des Übersetzens, dieser Mischung aus vielfältigem - linguistischem, psychologischem, soziologischem, historischem - Wissen und jenem nicht beherrschbaren Etwas, das mit der poetischen Intuition verwandt ist. Die Literatur liebt bekanntlich Zwänge, einer davon und nicht der mindeste ist die Tragödie in Alexandrinern. So vernahm ich von Josef Winiger die goldene Regel seiner Arbeit. Er achtet darauf, daß sein Übersetzungstext denselben Umfang wie das Original hat, was keine Selbstverständlichkeit ist, denn die erste deutsche Proust-Übersetzung war um ein Drittel länger als der Ursprungstext. Ich kann es freilich nicht nachprüfen. Die beiden Texte müßten in derselben Schrifttype von gleicher Größe gedruckt sein. Und dieses verschwundene Drittel, fehlt es für das Verständnis des Proustschen Romans? Was stand früher in Deutsch in der Suche nach der verlorenen Zeit, was heute nicht mehr drin steht? Weshalb das Lesen einer Übersetzung ein Akt des Vertrauens ist. Was bleibt einem übrig, als jemandem blind zu vertrauen. Wirklich blind, denn den übersetzten Text werde ich nicht lesen. Mein eigener Text wird mir buchstäblich fremd sein. Ich vertraue also blind demjenigen, der ihn sich aneignet und in eine andere Sprache hinüberbringt. Ich habe keine Ahnung, was dabei herauskommt, zumal die Echos, die ich gelegentlich zu lesen bekomme, alle mehr oder weniger apodiktisch sind und sich nicht unbedingt decken. Was also ist vom Originaltext hinübergekommen? Der Satzrhythmus? Vielleicht ein wenig, die klanglichen Eigenheiten aber sicherlich nicht. Der rein formale Aspekt fällt also weg, denn auf dem Weg von einer Sprache zur anderen kann es sogar geschehen, daß man überlange Perioden zerschneiden muß, weil die Syntax es will und der deutsche Leser nicht endlos auf das ans Satzende gerutschte Verb warten kann. Der Geist? Das ist das mindeste, aber zwischen Geist und Buchstabe besteht ein Spielraum. Man kann den Geist eines Textes wahren und ihn völlig umschreiben. Die Gefühle? Bekanntlich können zwei Sätze dasselbe sagen, und der eine berührt, der andere läßt kalt. Ich erwarte also vom Übersetzer, daß er mich versteht, das heißt daß er mit seiner ganzen Kunst dieser aufrichtigen, das Beste in mir vertretenden dichterischen Aussage anhängt, die ich ihm vorlege. Weshalb ich, wenn ich eine Übersetzung meiner Bücher anschaue, ihr bewußt aufs Wort glaube. Und es freut mich, daß Sie, indem Sie heute abend Josef Winiger mit diesem Preis ehren, mir recht geben, ihm vertraut zu haben. Wer weiß, vielleicht ist seine Übersetzung sogar besser als das Original? Ich danke Ihnen. Und ein unendlich dankbares Bravo an Josef. Vorgetragen bei der Verleihung des Prix lémanique de la traduction, Frauenfeld 24. März 2006. Hier publiziert mit der freundlichen Erlaubnis des Autors. © Jean Rouaud. Übersetzung: Josef Winiger |