La science est un discours - ein humanwissenschaftlicher Sachtext ist immer RhetorikMit diesem Titel will ich nicht zu verstehen geben, ich hätte eine Patentlösung für die Übersetzung des so vertrackt französischen Wortes discours gefunden. Es geht mir zunächst gar nicht um Wortprobleme. Ich möchte vielmehr in einem kurzen philosophischen Exkurs vorab ein paar Dinge ansprechen, die den Wortproblemen vorausgehen. Der Satz la science est un discours stammt von Gilles-Gaston Granger, einem Philosophen, der viel Epistemologie, d.i. Wissenschaftstheorie, betrieben hat. In Pensée formelle et sciences de l'homme stellt er fest, daß Wissenschaft immer auch eine rhetorische Komponente beinhalte; wer dies nicht wahrhaben wolle, verkenne die Bedeutung der Sprache. Sie sei nicht nur Vehikel der Kommunikation zwischen den Individuen, sondern auch vermittelnde Instanz zwischen dem Bewußtsein und den Dingen. Ludwig Wittgenstein sagt dasselbe, nur sehr viel radikaler, wenn er im berühmten Schlußsatz des Tractatus logico-philosophicus feststellt: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.« Es ist also wohl so, daß ohne die Wörter nicht nur keine Darstellung von Gedanken möglich ist, sondern auch kein Denken selbst. Oder versuchen Sie einmal, ohne Wörter zu denken. Sie können allenfalls Intuitionen, Ahnungen haben, aber einen Zusammenhang, eine Konhärenz zwischen ihnen werden Sie nicht herstellen können. Wir reden und schreiben nicht nur den Wörtern entlang, wir denken auch den Wörtern entlang. Die Sprache steht als mächtige Instanz am Eingang des Denkens, sehr zum Ärger der abendländischen Philosophen, die immer wieder hartnäckig versucht haben, sich irgendwie an ihr vorbeizumogeln. Denken Sie nur an die diversen Konstrukte des absoluten Wesens, des »Dings an sich«, das immer als jenseits der Sprache, als völlig unabhängig von ihr, postuliert wird: Die Bemühungen reichen von Platon über Descartes bis Hegel und im Grunde bis in unsere Zeit hinein. Verräterisch, sehr verräterisch ist, daß immer wieder Wörter und Ausdrücke, mit denen diese Philosophen ihre Systeme aufbauten, sich nicht oder nur unzulänglich in andere Sprachen übersetzen ließen. So die Idées claires et distinctes, die für Descartes erstes Kriterium wahrer Erkenntnis sind: Für kein einziges dieser drei Wörter gibt es im Deutschen eine exakte Entsprechung - das Kriterium der Übersetzbarkeit ist Descartes entgangen. Heißt das, daß der Geltungsbereich der kartesianischen Philosophie an der Sprachgrenze endet? In gewisser Weise schon, aber ins dornige Gelände der Sprachphilosophie brauchen wir nicht weiter vorzudringen. Es genügt uns die Feststellung, daß das über zweitausendjährige Bemühen, am Wort vorbei zur absoluten Erkenntnis vorzudringen, unser Denken tief geprägt und eine Art Begriffsgläubigkeit, ja Begriffshörigkeit hervorgebracht hat, die zwar längst als unhaltbar entlarvt wurde, aber als Phantom immer noch mächtig präsent ist. So folgert Gaston Granger aus der zitierten Feststellung lediglich, es gelte eben, vor dieser mächtigen Sprache auf der Hut zu sein und ein rhetorisches Verständnis der Wissenschaft zu bekämpfen. Ganz immer dachte man freilich nicht so: In einer Gegenbewegung zur reinen Begriffs-Jongliererei der Spätscholastik betonten die Philosophen der italienischen Renaissance den »pathetischen« Charakter der Rede. Die Rhetorik hatte für sie eine wesentliche Erkenntnisfunktion: Nur die »engagierte« Rede könne wahre Erkenntnis bringen. Für die Philosophen der strengen Begrifflichkeit sanken sie damit weit unter die Glaubwürdigkeitsgrenze - heute gibt man ihnen zumindest mit der Praxis recht: Weshalb sonst dieser Kult der Debatten und Talks? Was hat nun dieses philosophische Problem mit dem Problem des Sachbuch-Übersetzens zu tun? Ich kann nur hoffen: viel. Denn wenn das Sachbuch immer ein discours - oder mit den italienischen Philosophen der Renaissance zu reden - pathetische Rede ist, dann ergeben sich ganz andere Aussichten, was die Hauptschwierigkeiten des Sachbuchübersetzens betrifft: Das Problem ist ja, daß die Franzosen diese glasklaren Begriffe wie discours, lucide, éclat, généreux, rhythmer, ponctuer, en fonction de... haben, mit denen sie wundervolle Gedankengebäude errichten können. Es sind eben idées claires et distinctes! Vor allem die Historiker haben ein Begriffswerkzeug, um das wir sie nur beneiden können: Was läßt sich nicht alles konstruieren mit le pouvoir (in seinen vielen Bedeutungen), l'ambition, l'agent de, abusif, l'enjeu, soumettre à l'épreuve de... Oder denken wir an den soziologischen Begriff le groupe, der sich so universell verwenden läßt. Diese Wörter können einen terrorisieren, wenn man sie übersetzen soll. Es sei denn, man verliere ein wenig den Respekt und fassen den Text als Rede auf, die sich eben den zur Verfügung stehenden Wörtern entlang bewegt! Oft genug geschieht es ja, daß die Wörter nicht nur Vehikel, sondern in gewisser Weise Motor der Gedanken sind. Postmoderne Philosophen - ich habe Texte von ihnen übersetzt und weiß ein Lied davon zu singen - haben das geradezu zum Prinzip gemacht: Sie philosophieren nur den Wörtern entlang, und seien diese noch so nichtssagend. Aber auch bei anderen Autoren, die behaupten, nur Gedanken darzulegen, ist das Phänomen nicht selten. Wenn zum Beispiel Comte-Sponville sagt: La morale est d'abord un artifice, puis un artefact, so ist das Artefakt vom artifice nicht nur inspiriert, sondern regelrecht erzeugt, es hängt sozusagen nur am dünnen Faden der Klangähnlichkeit (der Übersetzung hält es nicht stand). Ja, man kann sich sogar fragen: Hätte er in seinem Petit traité des grandes vertus auch ein Kapitel über diegénérosité geschrieben, wenn seine Sprache das Deutsche wäre? Oder wären statt dessen nicht zwei Kapitel herausgekommen, nämlich eines über Selbstlosigkeit, ein anderes über die Hilfsbereitschaft... Das sind für den Übersetzer ermutigende Aussichten. Allerdings machen sie uns die Aufgabe nicht leichter: Natürlich gibt es im Deutschen die »wirkungsäquivalente« Entsprechung zur französischen »Rede«, man liest sie ja tagtäglich im Feuilleton, in deutschen Sachbüchern usw. Nur findet sich diese Entsprechung eben sehr oft nicht auf der Ebene der Wörter, sondern eine Etage darüber: Sie bewegt sich eben anderen Wörtern entlang. Da heißt es: Sich ähnliche deutsche Texte »assimlieren«, deutsche Sachbuch-Stile beobachten, Ausdrücke und Wendungen sammeln, entferntere Äquivalente »auf Vorrat« notieren. Das bedeutet geduldige, jahrelange Arbeit (bei der eine Datenbank weit bessere Dienste leistet als der gute alte Zettelkasten). Was bedeuten diese Überlegungen in der konkreten Praxis am Text für mich? Ich habe keine allgemeingültigen Regeln, deshalb führe ich ein paar Beispiele an, die ich in zwei Gruppen aufteile: Probleme auf der Wort-Ebene und Probleme auf der Satz-Ebene. (Alle Beispiele stammen aus einem einzigen Buch: Comte-Sponville, Petit traité des grandes vertus.)
Weil die Rede prinzipiell Vorrang vor dem Wort hat, soll das Wort der Rede dienen, das heißt: Lieber eine etwas freiere Übersetzung für »typisch« französische Wörter, anstatt von der Wörterbuchbedeutung auszugehen. Natürlich gibt es Zwänge und Einschränkungen. Aber wenn die Freiheit besteht, lieber ein Wort, das sich »rhetorisch« in den deutschen Text einfügt.
Quant au bien, il n'existe que dans la pluralité irréductible des actions bonnes, qui excèdent tous les livres, et des bonnes dispositions, elles aussi plurielles mais sans
doute moins nombreuses, que la tradition désigne du nom de vertus, c'est-à-dire (tel est le sens en grec du mot arétè, que les Latins traduisirent par virtus)
d'excellences. Das Gute jedoch existiert nur in der unübersehbaren, alle Bücher übersteigenden Vielfalt der guten Handlungen, und in einer unbestimmten, aber sicherlich weniger großen Anzahl
von guten Haltungen, die von der Tradition mit dem Wort Tugend bezeichnet werden, was sich von »Tauglichkeit« herleitet. [Für pluralité irréductible wähle ich eine Entsprechung, die dem Leser die Argumentation verständlich macht, selbst wenn ich von der mathematischen Metapher abweiche. - Die Parenthese kann ich ersatzlos streichen, weil sich die Definition von »Tugend« über die Etymologie im Deutschen sogar direkter bewerkstelligen läßt als im Französischen.]
On ne pense pas n’importe quoi, puisque penser n’importe quoi ce ne serait plus penser. (p. 32) Man denkt nicht beliebig, denn beliebig zu denken würde bedeuten, gar nicht zu denken. [Die Originalsprache ist mir gegenüber, wenn ich sie übersetzend »nachahmen« soll, immer im Vorteil. Ich hinke ihr gewissermaßen permanent hintendrein. Da darf ich keine Gelegenheit verpassen, wenn das Deutsche einen Vorteil bietet.]
L'essentiel est de savoir ce qui fait qu'un couple est un couple. (p. 39) Variante 1: Wichtig ist zu wissen, was ein Paar zum Paar macht. Variante 2: Die entscheidende Frage ist, was ein Paar zum Paar macht. Variante 3: Was macht denn ein Paar zum Paar? [Auch hier: Die Gegenüberstellung der Varianten zeigt eindeutig, daß die »Rede« sehr viel prägnanter wird, wenn ich den Vorteil des Deutschen ausnütze!]
(Le courage comme vertu:) Il n'exclut pas, certes, une certaine insensibilité à la peur, voire un certain dégoût pour elle. Mais il ne les suppose pas nécessairement. (p. 65) Dabei darf eine relative Unempfindlichkeit oder sogar Verachtung für die Angst durchaus mitspsielen. Muß aber nicht. [Wenn der Stil des Original entsprechend ist, soll ich auch ab und zu ein bißchen frech werden, selbst wenn's nicht an derselben Stelle ist.]
Aimer, dirait Coluche, cela ne dispense pas d'être intelligent. (p. 45) Liebe ist kein Freischein für Intelligenzverzicht. [Ich stelle mir lieber den Kabarettisten Coluche vor, als daß ich dem Wörterbuch folge]
(Le courage désespéré - pourqoui?) Ou pour la beauté du geste, comme on dit, étant entendu que cette beauté est d'ordre éthique et non esthétique. (p. 76) Oder um der schönen Tat willen, wie man im Französischen sagt, wobei natürlich »schön« ethisch und nicht ästhetisch zu verstehen ist. [Warum nicht so, statt krampfhaft eine Entsprechung für das Wortspiel zu suchen? Im Feuilleton deutscher Zeitungen lesen wir doch laufend solche Sätze!]
La morale est d'abord un artifice, puis un artefact. (p. 21) Die Moral ist zunächst schöner Schein, dann gutes Sein. [Mehrere deutsche Rezensenten griffen dankbar meine Version des Wortspiels auf, um die Argumentation des Autors zu erklären: meine »Rhetorik« hat anscheinend funktioniert!]
Noch fast entscheidender für die rhetorische Wirkung ist der Satzbau. Er ist das, was für den Schauspieler die Gestik oder für den Musiker die Artikulation ist. Also auf keinen Fall eine Satzstruktur übernehmen, wenn sie im Deutschen unnatürlich wirkt. Hier hilft oft nur das Ausprobieren mit mehreren Varianten. Einige »Regeln« lassen sich allerdings anführen: a) Dynamik und Schwerpunkte des Satzes erfordern im Deutschen oft einen Umbau der Satzstruktur. Judith Macheiner gibt uns in ihrem Buch Das grammatische Variété den äußerst wertvollen Hinweis, daß im Deutschen das Verb als »Perspektive« am Satzende am besten zur Wirkung kommt. Beispiel 8: C'est pourquoi peut-être notre époque, qui préfère les poètes aux philosophes et les enfants aux sages, tend à oublier que la tempérence est une vertu, pour ne plus y voir - »je fais attention«, disent-ils - qu'une hygiène. (p. 57) Variante 1: Vielleicht neigt deshalb unsere Zeit, die die Dichter den Philosophen und die Kinder den Weisen vorzieht, dazu, zu vergessen, daß die Mäßigung eine Tugend ist, und sie nur noch - »ich passe auf«, heißt es dann - als Gesundheitsvorsorge betrachtet. Variante 2: Das ist vielleicht der Grund, weshalb unsere Zeit, die die Dichter den Philosophen und die Kinder den Weisen vorzieht, die Mäßigung kaum noch als Tugend auffaßt und sie nur noch - »ich passe auf« - als Gesundheitsvorsorge betrachtet. [Variante 1, die der französischen Syntax folgt, leidet vor allem am »Verbknäuel« in der Mitte des Satzes; man muß ihn mehrmals lesen. Die Wiedergabe von tend à mit »kaum noch« geschieht einzig und allein, um die Verben ans Ende der Teilsätze zu bringen!]
Beispiel 9: Ecrire sur les vertus serait plutôt, pour qui s'y risque, une perpétuelle blessure narcissique: parce que cela le renvoie toujours, et bien vivement, à sa propre médiocrité. (p. 12) Über die Tugenden zu schreiben bedeutet im Gegenteil, ständig mit seinem Narzißmus in Konflikt zu geraten, weil es einen fortwährend und sehr drastisch auf die eigene Unzulänglichkeit hinweist.
Beispiel 10: A ceci peut-être: essayer de comprendre ce que nous devrions faire, ou être, ou vivre, et mesurer par là, au moins intellectuellement, le chemin qui nous en sépare. (p. 7) Vielleicht dazu: Wir können uns klarer werden, was wir zu tun, wie wir zu sein oder zu leben hätten, und dadurch wenigstens verstandesmäßig ermessen, wie weit wir davon entfernt sind. [Der Infititiv "zu verstehen versuchen" ist geradezu unverdaulich!]
Beispiel 11: Un rustre généreux vaudra toujours mieux qu'un égoïste poli. Un honnête homme incivil, qu'une fripouille raffinée. (p. 23) Besser hilfsbereit und tölpelhaft und als egoistisch und höflich. Besser ehrlich und unkultiviert als hinterhältig und geschliffen. [Die elliptische Form des zweiten Satzes ist im Deutschen nicht möglich.]
Beispiel 12: Quoi de plus ridicule que ces héros par contumace, qui n'affrontent, bien sûr imaginairement, que des dangers forclos? (p. 72) Diese Helden in Abwesenheit, die, natürlich immer in Gedanken, nur verjährten Gefahren begegnen, sind einfach lächerlich. [Rhetorischer Komparativ ersetzt durch Schlußstellung des Verbs + »einfach«. - »In Abweseheit« kursiv, um Anklang an das juristische Fachvokabular wiederherzustellen.]
© Josef Winiger 1997 |